“Deep-Incarnation” als Beitrag zum Animal Turn

von Julia Enxing

Julia Enxing
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Der “Animal Turn” beschreibt die zunehmende akademische Beschäftigung mit Tieren und dem Verhältnis zwischen Mensch und Tier. Die Theologin Julia Enxing argumentiert auch in der Theologie für eine Abkehr vom anthropozentrischen Paradigma hin zu einem neuen Verständnis der Beziehungen zwischen Mensch und Tier.

Im Rückgriff auf die Vorstellung einer “Deep Incarnation” versteht Enxing den Anfang des Johannesevangeliums dahingehend, dass sich Gott nicht nur im Menschen, sondern in aller Materie inkarniert hat. Darüber hinaus zeigen weitere biblische Stellen wie Psalm 104 und das Buch Ijob eine nicht-anthropozentrische Sicht auf die Schöpfung. Damit kann jede Existenz von der Liebe Gottes Zeugnis ablegen – mit Konsequenzen für Theologie und Ethik.

Julia Enxing: “Wenn wir davon ausgehen, dass Gott in aller Materie inkarniert ist, dann birgt jede Begegnung mit dem atmenden Leben, dem Materiellen, das Potenzial einer Begegnung mit Gott.

Enxing zeigt aber auch, dass die “Deep-Incarnation-Theologie” keine theologische Sondermeinung darstellt, sondern Eingang gefunden hat in lehramtliche Dokumente des Papstes wie der Enzyklika “Laudato Si” von 2015 und dem daran anknüpfenden Apostolischen Schreiben “Laudate Deum” von 2023, das passenderweise ein paar Tage vor unserer Tagung veröffentlicht wurde.

Die folgende Zusammenfassung speist sich aus dem Vortrag von Julia Enxing und ihrem Artikel “Göttlich-kreatürliche Begegnungen und ihr Potenzial für einen Animal Turn in der Theologie” in: Julia Enxing / Simone Horstmann / Gregor Taxacher (Hg.): Animate Theologies – Ein (un-)mögliches Projekt, Darmstadt 2022, 151-182. Das Buch ist als Open-Access-Publikation im Sinne der Creative-Commons-Lizenz CC BY-NC International 4.0 veröffentlicht.

“Und die Weisheit wurde Materie” (Joh 1,14)

Am Anfang steht die Frage, wie man christlich-theologisch anders als im Modus der Sonderstellung des Menschen denken kann, denn Gott ist doch selbst Mensch geworden, oder? Diese theologische Grundaussage möchte ich keinesfalls infrage stellen. Im Folgenden wird aber ein Licht auf biblische und theologische Quellen geworfen, das angesichts des Anthropozäns andere Aspekte aufleuchten lässt.

Das erste Kapitel des Johannesevangeliums, der sogenannte Johannesprolog, gilt als eine der theologischen Hauptquellen für die Begegnung von Gott und Mensch. Zwar enthält die Heilige Schrift viele Zeugnisse für die Interaktion von Gott und Mensch, meist wird bezeugt, dass Gott Menschen im Alten Testament als Prophetinnen und Propheten erschienen ist. Der Höhepunkt der Selbstoffenbarung Gottes ist für das Christentum allerdings die Inkarnation, die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. In Jesus Christus wurde Gott Mensch, so die theologische Grundaussage.

Der dänische Theologe Niels Henrik Gregersen weist jedoch darauf hin, dass der Evangelist Johannes mit “Fleisch” nicht nur “Mensch”, sondern mit dem hebräischen “kol basar” alles Fleisch meint, also auch Tiere. Wenn Gott also nicht nur Mensch wurde, sondern sich in der gesamten Materie offenbart hat, dann beschreibt der Johannesprolog die “In-Welt-Werdung” Gottes, die Durchwirkung der Materie mit der Transzendenz. Die göttliche Wirklichkeit ist demnach transzendent und zugleich immanent, sie geht nicht in der Materie auf, ist aber dennoch präsent. Gregersen prägte für diese Sichtweise den Begriff “Deep Incarnation”.

‚Deep Incarnation‘ is the view that God’s own Logos (Wisdom and Word) was made flesh in Jesus the Christ in such a comprehensive manner that God, by assuming the particular life story of Jesus the Jew from Nazareth, also conjoined the material conditions of creaturely existence (‚all flesh‘), shared and ennobled the fate of all biological life forms (‚grass‘ and ‚lilies‘), and experienced the pains of sensitive creatures (‚sparrows‘ and ‚foxes‘) from within. Deep incarnation thus presupposes a radical embodiment that reaches into in [sic!, J.E.] the roots (radices) of material and biological existence as well as into the darker sides of creation: the tenebrae creationis.“

(Gregersen, The Extended Body of Christ, 2015, 225f.)

Auch andere Theolog:innen wie Denis Edwards oder Celia Deane-Drummond sehen in der “Fleischwerdung” Gottes einen Hinweis auf eine inklusive sowie expansive Christologie und Inkarnationstheologie, die die Verbundenheit aller Geschöpfe anerkennt. Deane-Drummond stellt Bezüge zur alttestamentlichen Weisheitstheologie her: Wie die Weisheit Sophia auf die Erde gesandt wurde, so wurde Jesus, der auch Sophia verkörpert, Fleisch.

Mögliche deutsche Übersetzungen von Johannes 1:1–4.14 lauten:

1 Am Anfang war die Weisheit und die Weisheit war bei Gott und die Weisheit war wie Gott.1 Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott.
2 Diese war am Anfang bei Gott.2 Dieses war im Anfang bei Gott.
3 Alles ist durch sie entstanden und ohne sie ist nichts entstanden. Was in ihr entstanden ist,3 Alles ist durch das Wort geworden und ohne es wurde nichts, was geworden ist.
4 war Leben, und das Leben war das Licht für die Menschen.4 In ihm war Leben und das Leben war das Licht der Menschen
14 Und die Weisheit wurde Materie und wohnte unter uns […].14 Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt […].
Quelle: Bibel in gerechter SpracheQuelle: Einheitsübersetzung

Die Inkarnation Gottes bedeutet damit eine Solidarisierung mit der Verletzlichkeit und Sterblichkeit der gesamten Schöpfung. Nicht nur der Mensch, sondern alle Geschöpfe sind Teil des “Dramas der Inkarnation”, zu dem auch wir als Handelnde gehören. Unsere ethische Verantwortung besteht darin, für Gerechtigkeit für alle Mitgeschöpfe zu sorgen. Die “Deep Incarnation” verändert unser Verständnis von Schöpfung und Neuschöpfung und unserer Rolle darin.

Herrschen bleibt Herrschen

„Da sprach Gott: ‚Wir wollen Menschen machen – als unser Bild, etwa in unserer Gestalt. Sie sollen niederzwingen die Fische des Meeres, die Flugtiere des Himmels, das Vieh, die ganze Erde, alle Kriechtiere, die auf dem Boden kriechen.‘“

(Gen 1,28, Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache)

Der sogenannte “biblische Herrschaftsauftrag” aus dem Buch Genesis, auch bekannt als “Macht Euch die Erde untertan”, wurde lange Zeit wörtlich als Legitimation der menschlichen Herrschaft über die Natur verstanden. In den letzten Jahren gab es jedoch Versuche, diesen Auftrag eher als “Verwaltungsauftrag” oder “Hüte-Auftrag” zu interpretieren. Nicht so Celia Deane-Drummond: Sie schlussfolgert, dass es besser wäre, statt von „dominion“, „stewardship“ oder auch „walten“, Begriffe, die jeweils hierarchische Verhältnisse bedeuten, von einer „shared creaturely existence“ zu sprechen. (Deane-Drummond, Theological Ethics Through a Multispecies Lens, 2019, 134)

Die Alttestamentlerin Ilse Müllner sie sieht dagegen den unmittelbaren Zusammenhang von kosmischer und sozialer Ordnung durchaus in der Schöpfungserzählung der Genesis repräsentiert. Nicht unbedingt im sogenannten ‚Dominium terrae‘, sondern im Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen. In ihrer Sicht soll der Mensch in gerechter “Herrschaft” quasi als Stellvertreter Gottes für die gesamte Schöpfung sorgen. Allerdings gesteht auch Müllner zu, dass bereits in biblischen Zeiten eine solche gerechte Herrschaft eher ein Wunschbild war. Tatsächlich wurde die Schöpfung oft rücksichtslos ausgebeutet.

Obgleich Müllners Re-Vision des Herrschaftsauftrags ein kritisches Moment umfasst und Herrschaft einschränkt bzw. näher qualifiziert, wird auch in dieser Interpretation nicht problematisiert, dass Herrschaft – und auch noch so gut gemeinte – immer Herrschaft über etwas bedeutet, womit jeweils die Vorstellung einer ‚Hierarchie des Lebens‘ normativ leitend ist. Allein der Gedanke, die nichtmenschliche Welt wäre eine uns anvertraute lässt sich meines Erachtens schon deshalb nicht halten, weil wir das Vertrauen der uns gegebenenfalls einst Anvertrauten längst verspielt haben. Die uns Anvertrauten haben erfahren, dass ein Sich-uns-Anvertrauen für sie der Anfang vom Ende ist. Sollte es ein ursprüngliches Vertrauensverhältnis gegeben haben, so hat unser Herrschaftsdenken dies bestenfalls zu einem Verhältnis existenzieller Abhängigkeiten gemacht. Wir haben es als Herrschaftsauftrag verstanden, andere Lebewesen in eine Abhängigkeit von uns zu bringen. Sie sind deshalb angewiesen auf unser Einlenken und unser Umdenken. Unser Herrschaftsdenken hat längst jede Vorstellung einer Verantwortungsgemeinschaft überlagert. Ich gebe Deane-Drummond also recht, dass kein Herrschaftsauftrag dazu taugt, eine ‚shared creaturely existence‘, unsere Egalität im Kreatur-Sein, in einer von allen Kreaturen geteilten Lebenswirklichkeit, gerecht zu werden. Genau dies gesteht auch Müllner zu, die dennoch an einem so positiv verstandenen Herrschaftsauftrag festhalten will, obgleich sie eingesteht, dass dieser vielen als ‚zynisch‘ erscheinen mag, angesichts der katastrophalen Ausbeutungsverhältnisse unserer Zeit. Müllner plädiert deshalb dafür, Schöpfungstheologie nicht ausschließlich aus den beiden Schöpfungserzählungen im Buch Genesis zu betreiben, sondern weitere schöpfungstheologisch relevante biblische Texte als Quellen eines Verständnisses heranzuziehen, jene auch, die weniger anthropozentrisch sind, wie z.B. Ps 8; 19; 104; Spr 8; Jes 44–45; oder Ijob 38–42.

Und wo warst Du? Anthropo-de-zentrierende Maßnahmen im Alten Testament

Nachdem die Genesis-Texte rezeptions- und theologiegeschichtlich lange Zeit überstrapaziert wurden, votiert Müllner dafür, auch in Kinder- und Schulbüchern einen religiösen Zugang zur Schöpfung beispielsweise mit Psalm 104 zu eröffnen. In Psalm 104 wird der Mensch zwar erwähnt, aber erstens eher beiläufig und zweitens als eine Kreatur unter vielen; in diesen Text ist die folgenreiche Dichotomie von Natur und Kultur noch nicht eingetragen. Die Werke der Tiere beispielsweise stehen hier auf gleicher Ebene wie die Werke des Menschen. Ein weiterer schöpfungstheologisch relevanter Gedanke ist in Psalm 104 ausgedrückt: Schöpfungstheologie will nicht erklären, wie die Welt entstanden ist, sondern Schöpfungstheologie ist Gotteslob. „Preise den Herrn, meine Seele“ / „Lobe JHWH, meine Kehle“ / „Segne die Eine, du meine Lebenskraft“ (Ps 104,1). Und dann wird alles aufgezählt, was Teil dieser göttlichen Lebenskraft ist, alles, durch das die göttliche Geistkraft, die Lebenskraft, fließt: Lebewesen der Wildnis, Wildesel, Vögel des Himmels und im Gebüsch, Vieh, Störche, Steinböcke, Klippdachse, Junglöwen, …

Deutlich wird hier, dass Gottes Geistkraft, Odem, Ruach in jedem einzelnen Lebewesen, in jeder Kreatur ist und damit jede einzelne Kreatur Gott in ihrem Dasein lobt und Gottes Präsenz atmet. In Papst Franziskus´ Enzyklika Laudato si‘ heißt es:

Gott hat ein kostbares Buch geschrieben, dessen ‚Buchstaben von der Vielzahl der im Universum vertretenen Geschöpfe gebildet werden‘. Gut haben die Bischöfe von Kanada zum Ausdruck gebracht, dass kein Geschöpf von diesem Sich-Kundtun Gottes ausgeschlossen ist: ‚Von den weitesten Panoramablicken bis zur winzigsten Lebensform ist die Natur eine ständige Quelle für Verwunderung und Ehrfurcht. Sie ist auch eine fortwährende Offenbarung des Göttlichen.‘ Die Bischöfe von Japan äußerten ihrerseits einen sehr reizvollen Gedanken: ‚Wahrzunehmen, wie jedes Geschöpf den Hymnus seiner Existenz singt, bedeutet, freudig in der Liebe Gottes und in der Hoffnung zu leben.‘“

(Papst Franziskus, Laudato si‘, 2015, Nr. 85)

Und in Psalm 150,6 heißt es: „Alle, die ihr Atem zum Leben habt, lobt Jah!“ Das Auslöschen der Geschöpfe bedeutet deshalb immer auch ein Auslöschen vom Lobpreis Gottes. Und wenn wir davon ausgehen, dass Gott in allem, was atmet, in aller Materie inkarniert ist, d.h. präsent ist, gegenwärtig ist, verwirklicht ist, dann birgt jede Begegnung mit dem atmenden Leben, dem Materiellen, das Potenzial einer Begegnung mit Gott. Anders formuliert: Dann kann uns Gott im Tier begegnen und dann hat die Begegnung mit dem Tier etwas Göttliches, etwas Gott-immanentes.

Offenbarung kommunikationstheoretisch gedacht, würde in meiner Perspektive bedeuten, dass nicht nur Inter-, sondern auch Transspeziesbegegnungen selbstverständlich als Selbstmitteilung der Liebe Gottes verstanden werden können. Warum auch nicht? Weshalb sollte es uns überraschen, dass ein Gott, der sich im Busch offenbart, uns auch im Tier begegnet?

Eine Theologie, die die Inkarnation nur als Mensch-Werdung Gottes versteht, die nichtmenschliche Materie als nicht-beseelte begreift, trägt das Risiko, die Vielfalt der göttlichen Offenbarungsmöglichkeiten auf ein (Erfahrungs-)Minimum zu beschränken. Eine Deep-Incarnation-Theologie ist hingegen überzeugt: Die Schönheit, Vielfalt, der Reichtum dieser wunderschönen Erde legen Zeugnis ab von der Vielfalt und Diversität der Liebe Gottes – wobei nicht verkannt wird, dass es auch Grausamkeiten gibt. Die Deep-Incarnation-Theologie erteilt der Vorstellung, dass ausschließlich der Mensch die einzig von Gott bestimmte Art wäre, die von der Vielfalt der Liebe Gottes Zeugnis ablegen können, eine Absage. Gehen wir dagegen davon aus, dass Gott uns im Tier begegnet und im Tier etwas mitteilt, dann ist damit nicht nur eine ethische, sondern auch eine theologische Pflicht zur Kritik der Auslöschung dieser Gott-Offenbarenden angebracht.

Damit wäre aber auch die Behauptung aus Gaudium et spes 24, „dass der Mensch, [… die, J.E.] auf Erden […] einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur ist“ theologisch nicht mehr haltbar. Wenn Gott sich in allem Leben, allem Fleisch inkarniert, dann trägt sich die Liebe Gottes auf diese Weise in die Welt, dann ist jedes Geschöpf, weil sich in ihm die Liebe Gottes verwirklicht, um seiner selbst willen zu lieben. Alles andere wäre eine Theologie, die zugunsten eines starken Anthropozentrismus, der die menschliche Sonderstellung um jeden Preis aufrechterhalten will, ihre theologische Redlichkeit preisgibt. Ich meine hier nicht nur die menschliche Sonderstellung als eine Spezies mit besonderen Fähigkeiten (das will ich gar nicht in Frage stellen), ich meine hier eine Sonderstellung im Sinne von „besonders und mehr als die nichtmenschliche Schöpfung“ geliebter Kreatur.

Ich möchte nun auf ein weiteres biblisches Zeugnis gott-kreatürlicher Begegnungen eingehen – das Buch Ijob. Damit knüpfe ich an Überlegungen von Andreas Krebs an. Ijob, der vom Leben gebeutelte Mann, dem alles genommen wurde, wird von seinen Freunden des mangelnden Gottesglaubens bezichtigt. Gott begegnet Ijob jedoch mit rhetorischen Fragen, die Ijob die Grenzen seiner Erkenntnismöglichkeiten vor Augen führen sollen. Gott fragt Ijob, ob er bei der Erschaffung der Erde oder der Tiere dabei war oder ob er die Naturgesetze bestimmt habe. Damit relativiert Gott nach Ilse Müllner die Bedeutung Ijobs und rückt stattdessen den Schöpfungszusammenhang in den Mittelpunkt. Diese Relativierung des Menschen ist bedeutsam. Sie widerspricht der in Genesis vermittelten Vorstellung der menschlichen Herrschaft.

Allerdings bräuchten wir für diese Erkenntnis nicht unbedingt das Buch Ijob. Meines Erachtens ließe sich die Frage „Und wo warst Du als ich das alles ins Dasein gelockt habe?“ auch auf die erste Schöpfungserzählung anwenden: Die Autor:innen von Genesis 1 komponierten hier Ätiologien – ‚Stories‘ vom Anfang aller Dinge – und setzten sich selbst als Mit-Akteur:innen der Geschichte – im Fall von Gen 1 – erst am sechsten von sieben Tagen in den Plot. Sie sind sich ihrer faktischen Unkenntnis über das Ins-Dasein-Kommen von Licht und Finsternis, Himmel und Erde, Gewächsen und Bäumen, Sonne, Mond und Sternen, Wassertieren, Flugtieren, Landtieren, Vieh, Kriechtieren, Wildtieren aller Art also durchaus bewusst. Vor ihnen, den Menschen, wurde alles andere Leben erschaffen, erhielt alles andere Leben den Auftrag fruchtbar zu sein und sich zu vermehren und wurde alles andere Leben für gut befunden. Die Erschaffung des Menschen am sechsten Tag ist übrigens der einzige Schöpfungsakt, nach dem Gott nicht sagte „und siehe, es war gut“. Erst in Gen 1,31 – wo Gott das Schöpfungskollektiv in Gänze betrachtet, heißt es: „Und Gott sah alles, was Gott gemacht hatte: Sieh hin, es ist sehr gut. Es wurde Abend, es wurde Morgen: der sechste Tag.“ Sollte uns dies nicht zu denken geben?

Sollten wir dem Spät-Erschaffenen, dem jungen Gewächs der Evolution, dem, der die Dinge gar nicht so richtig versteht, wirklich die Deutungshoheit und Herrschaft über alles Leben überlassen? Ließe sich nicht schon aus den sogenannten Ursprungserzählungen ein wesentlich demütigeres und dezentriertes Bild des Menschen begründen? Ich sehe hier Potenziale für eine theologische Umkehr im Angesicht der Folgen, der wirkmächtigen Betonung von Deutungsmacht, Sonderstellung und Herrschaft.

„Lobt Gott für all seine Geschöpfe“. Dies war die Aufforderung, die der heilige Franz von Assisi mit seinem Leben, seinen Liedern, seinen Taten zum Ausdruck brachte. Damit griff er die Einladung der biblischen Psalmen auf und gab die Feinfühligkeit Jesu für die Geschöpfe seines Vaters wieder: »Lernt von den Lilien des Feldes, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht. Doch ich sage euch: Selbst Salomo war in all seiner Pracht nicht gekleidet wie eine von ihnen« (Mt 6,28-29). »Verkauft man nicht fünf Spatzen für zwei Pfennige? Und doch ist nicht einer von ihnen vor Gott vergessen« (Lk 12,6). Wie könnten wir diese Zärtlichkeit Jesu für all jene, die uns auf unserem Weg begleiten, nicht bewundern? … Gleichzeitig »erscheinen uns die Geschöpfe dieser Welt nicht mehr als eine bloß natürliche Wirklichkeit, denn geheimnisvoll umschließt sie der Auferstandene und richtet sie auf eine Bestimmung der Fülle aus. Die gleichen Blumen des Feldes und die Vögel, die er mit seinen menschlichen Augen voll Bewunderung betrachtete, sind jetzt erfüllt von seiner strahlenden Gegenwart«. Es entfaltet sich »das Universum […] in Gott, der es ganz und gar erfüllt. So liegt also Mystik in einem Blütenblatt, in einem Weg, im morgendlichen Tau, im Gesicht des Armen«. Die Welt lässt ein Lied unendlicher Liebe erklingen, wie könnten wir nicht für sie sorgen?

(Papst Franziskus, Laudate Deum, 2023, Nr. 1, Nr. 65)

Textquellen

Ulrike Bail u.a. (Hrsg.): Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 2006.

Celia Deane-Drummond, Theological Ethics Through a Multispecies Lens. The Evolution of Wisdom, Vol. I, Oxford 2019.

Niels Henrik Gregersen, The Extended Body of Christ: Three Dimensions of Deep Incarnation, in: Niels Henrik Gregersen (Hrsg.), Incarnation. On the Scope and Depth of Christology, Minneapolis 2015, 225–251.

Bildquellen

public domain, Heinz-Hermann Peitz, Midjourney

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