KAPITEL VII
AKTUELLE FORDERUNGEN
UND AUFGABEN
Die unverzichtbaren Forderungen des Wortes Gottes [80-91]
80. Die Heilige Schrift enthält sowohl in expliziter wie impliziter Form eine Reihe von Elementen, die uns zu einem Menschenbild und einer Weltsicht von beträchtlicher philosophischer Stärke gelangen lassen. Die Christen wurden sich allmählich des in heiligen Büchern enthaltenen Reichtums bewußt. Aus jenen Seiten ergibt sich, daß die Wirklichkeit, die wir erfahren, nicht das Absolute ist: sie ist weder ungeschaffen noch ist sie sich selbst geschaffen. Nur Gott ist das Absolute. Aus den Seiten der Bibel geht außerdem eine Sicht vom Menschen als imago Dei, Abbild Gottes, hervor, die genaue Hinweise auf sein Sein, seine Freiheit und die Unsterblichkeit seiner Seele enthält. Da die geschaffene Welt sich nicht selbst genügt, führt jede Illusion von Autonomie, welche die wesentliche Abhängigkeit übersieht, in der jedes Geschöpf einschließlich der Mensch vor Gott steht, zu Konflikten, welche die rationale Suche nach der Harmonie und dem Sinn des menschlichen Daseins zunichte machen.
Auch das Problem des sittlich Bösen die tragischste Form des Bösen wird in der Bibel aufgegriffen, die uns sagt, daß es nicht auf irgendeinen durch die Materie bedingten Mangel zurückzuführen ist, sondern auf eine Wunde, die von einem ungeordneten Sich-Äußern der menschlichen Freiheit herrührt. Schließlich zeigt das Wort Gottes das Problem auf, welchen Sinn das Dasein hat, und enthüllt seine Antwort, indem es den Menschen auf Jesus Christus, das fleischgewordene Wort, hinweist, der das menschliche Dasein im Vollsinn verwirklicht. Weitere Aspekte ließen sich aus der Lektüre des heiligen Textes verdeutlichen; jedenfalls ergibt sich daraus die Zurückweisung jeder Form von Relativismus, Materialismus und Pantheismus.
Die Grundüberzeugung dieser in der Bibel enthaltenen »Philosophie« besteht darin, daß das menschliche Leben und die Welt einen Sinn haben und auf ihre Vollendung hin ausgerichtet sind, die sich in Jesus Christus erfüllt. Das Geheimnis der Menschwerdung wird immer der Mittelpunkt bleiben, auf den man sich beziehen muß, um das Rätsel vom menschlichen Dasein, der geschaffenen Welt und von Gott selber begreifen zu können. In diesem Geheimnis liegen extreme Herausforderungen für die Philosophie, weil die Vernunft aufgerufen ist, sich eine Logik zu eigen zu machen, welche die Schranken niederreißt, hinter denen sie sich zu verschanzen droht. Erst hier jedoch erreicht der Sinn des Daseins seinen Höhepunkt. Denn es wird das innerste Wesen Gottes und des Menschen verständlich: Im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes werden göttliche und menschliche Natur in ihrer je eigenen Autonomie bewahrt, und zugleich offenbart sich ein einziges Band, das sie unvermischt in gegenseitige Beziehung setzt.(97)
81. Wir müssen feststellen, daß eines der gewichtigsten Fakten in unserer derzeitigen Situation in der »Sinnkrise« besteht. Die häufig wissenschaftlich geprägten Ansichten über Leben und Welt haben eine derartige Vermehrung erfahren, daß wir wirklich erleben, wie das Phänomen der Bruchstückhaftigkeit des Wissens um sich greift. Genau das macht die Suche nach einem Sinn schwierig und oft vergeblich. Noch dramatischer ist es, daß sich in diesem wirren Geflecht aus Daten und Fakten, zwischen denen man lebt und die den eigentlichen Gang des Daseins auszumachen scheinen, nicht wenige fragen, ob es überhaupt noch sinnvoll sei, eine Sinnfrage zu stellen. Die Mehrzahl der um eine Antwort streitenden Theorien bzw. die unterschiedlichen Sicht- und Interpretationsweisen in bezug auf die Welt und das Leben des Menschen verschärfen nur diesen radikalen Zweifel, der leicht auf einen Zustand des Skeptizismus und der Gleichgültigkeit oder auf die verschiedenen Äußerungen des Nihilismus hinausläuft.
Als Folge davon wird der menschliche Geist von einem zweideutigen Denken vereinnahmt, das ihn veranlaßt, sich noch mehr in sich selbst, in die Grenzen seiner Immanenz zu verschließen, ohne irgendeinen Bezug zur Transzendenz zu haben. Eine Philosophie, die nicht mehr die Frage nach dem Sinn des Daseins stellt, würde ernsthaft Gefahr laufen, die Vernunft zu rein instrumentalen Funktionen zu degradieren, ohne jegliche echte Leidenschaft für die Suche nach der Wahrheit.
Um sich in Übereinstimmung mit dem Wort Gottes zu befinden, muß die Philosophie vor allem ihre Weisheitsdimension wiederfinden, die in der Suche nach dem letzten und umfassenden Sinn des Lebens besteht. Wenn man es recht betrachtet, stellt diese erste Forderung für die Philosophie einen sehr nützlichen Ansporn dazu dar, ihrem eigentlichen Wesen gerecht zu werden. Denn wenn sie das tut, wird sie nicht nur die entscheidende kritische Instanz sein, die die verschiedenen Seiten des wissenschaftlichen Wissens auf ihre Zuverlässigkeit und ihre Grenzen hinweist, sondern sie wird sich auch als letzte Instanz für die Einigung von menschlichem Wissen und Handeln erweisen, indem sie diese dazu veranläßt, ein endgültiges Ziel und einen letzten Sinn anzustreben. Diese Weisheitsdimension ist heute um so unerläßlicher, weil die enorme Zunahme der technischen Macht der Menschheit ein erneuertes und geschärftes Bewußtsein für die letzten Werte verlangt. Sollten diese technischen Mittel ohne Hinordnung auf ein Ziel bleiben, das nicht bloß vom Nützlichkeitsstandpunkt her bestimmt wird, könnten sie sich sehr schnell als inhuman herausstellen, ja sich in potentielle Zerstörer des Menschengeschlechts verwandeln.(98)
Das Wort Gottes offenbart das letzte Ziel des Menschen und verleiht seinem Handeln in der Welt einen umfassenden Sinn. Deshalb lädt das Wort Gottes die Philosophie ein, sich für die Suche nach der natürlichen Grundlage dieses Sinnes einzusetzen; diese Grundlage besteht in der Religiosität, die jedem Menschen als Person eigen ist. Eine Philosophie, die die Möglichkeit eines letzten und umfassenden Sinnes leugnen wollte, wäre nicht nur unangemessen, sondern irrig.
82. Diese der Weisheit verpflichtete Rolle könnte allerdings nicht von einer Philosophie wahrgenommen werden, die nicht selbst echtes und wahres Wissen wäre; das heißt eine Philosophie, die nicht nur auf einzelne, bedingte ob funktionale, formale oder utilitaristische Aspekte des Wirklichen, sondern auf seine vollständige und endgültige Wahrheit, also auf das Sein des Erkenntnisgegenstandes selbst gerichtet ist. Daher gilt eine zweite Forderung: Überprüfung der Fähigkeit des Menschen, zur Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen; eine Erkenntnis übrigens, die zur objektiven Wahrheit gelangt durch jene adaequatio rei et intellectus,(99) auf die sich die Gelehrten der Scholastik beziehen. Diese Forderung, die dem Glauben eigen ist, wurde vom II. Vatikanischen Konzil ausdrücklich neu bekräftigt: »Die Vernunft ist nämlich nicht auf die bloßen Phänomene eingeengt, sondern vermag geistig tiefere Strukturen der Wirklichkeit mit wahrer Sicherheit zu erreichen, wenn sie auch infolge der Sünde zum Teil verdunkelt und geschwächt ist«. (100)
Eine radikal phänomenalistische oder relativistische Philosophie würde sich als ungeeignet dafür erweisen, diese Hilfe zu leisten, wenn es um die Vertiefung der im Wort Gottes enthaltenen Fülle geht. Die Heilige Schrift setzt nämlich immer voraus, daß der Mensch, auch wenn er der Doppelzüngigkeit und Lüge schuldig ist, die reine und einfache Wahrheit zu erkennen und zu begreifen vermag. In den Heiligen Büchern und besonders im Neuen Testament finden sich Texte und Aussagen von wirklich ontologischer Tragweite. Die inspirierten Verfasser wollten nämlich wahre Aussagen formulieren, Aussagen also, welche die objektive Wirklichkeit ausdrücken sollten. Man kann nicht behaupten, die katholische Überlieferung habe einen Irrtum begangen, als sie einige Texte des hl. Johannes und des hl. Paulus als Aussagen über das Sein Christi selbst verstanden hat. Die Theologie braucht daher, wenn sie sich dem Verstehen und Erklären dieser Aussagen widmet, den Beitrag einer Philosophie, welche die Möglichkeit einer objektiv wahren, freilich immer vervollkommnungsfähigen Erkenntnis nicht leugnet. Das Gesagte gilt auch für die Urteile des sittlichen Gewissens, von denen die Heilige Schrift annimmt, daß sie objektiv wahr sein können. (101)
83. Die beiden obengenannten Forderungen ziehen eine dritte nach sich: Erforderlich ist eine Philosophie von wahrhaft metaphysischer Tragweite; sie muß imstande sein, das empirisch Gegebene zu transzendieren, um bei ihrer Suche nach der Wahrheit zu etwas Absolutem, Letztem und Grundlegendem zu gelangen. Das ist eine selbstverständliche Forderung, die sowohl für die auf Grund der Weisheit wie auch für die auf analytischem Wege gewonnenen Erkenntnis Geltung hat; es ist im besonderen eine Forderung an die Erkenntnis des sittlich Guten, dessen letzter Grund das höchste Gut, Gott selber, ist. Ich spreche hier nicht von der Metaphysik als einer bestimmten Schule oder einer besonderen geschichtlichen Strömung. Ich möchte nur bekräftigen, daß die Wirklichkeit und die Wahrheit das Tatsächliche und Empirische übersteigen. Zudem will ich die Fähigkeit des Menschen geltend machen, diese transzendente und metaphysische Dimension wahrhaftig und sicher, wenngleich auf unvollkommene und analoge Weise, zu erkennen. So verstanden, darf die Metaphysik nicht als Alternative zur Anthropologie gesehen werden, gestattet es doch gerade die Metaphysik, dem Begriff von der Würde der Person, die auf ihrer geistigen Verfaßtheit fußt, eine Grundlage zu geben. Besonders die Person stellt einen bevorzugten Bereich dar für die Begegnung mit dem Sein und daher mit dem metaphysischen Denken.
Wo immer der Mensch einen Hinweis auf das Absolute und Transzendente entdeckt, öffnet sich für ihn ein Spalt zur metaphysischen Dimension des Wirklichen: in der Wahrheit, in der Schönheit, in den sittlichen Werten, in der Person des anderen, im Sein selbst, in Gott. Eine große Herausforderung, die uns am Ende dieses Jahrtausends erwartet, besteht darin, daß es uns gelingt, den ebenso notwendigen wie dringenden Übergang vom Phänomen zum Fundament zu vollziehen. Wir können unmöglich bei der bloßen Erfahrung stehenbleiben; auch wenn diese die Innerlichkeit des Menschen und seine Spiritualität ausdrückt und verdeutlicht, muß das spekulative Denken die geistliche Mitte und das sie tragende Fundament erreichen. Ein philosophisches Denken, das jede metaphysische Öffnung ablehnte, wäre daher völlig ungeeignet, im Verständnis der Offenbarung als Vermittlerin wirken zu können.
Das Wort Gottes nimmt ständig auf das Bezug, was die Erfahrung und sogar das Denken des Menschen übersteigt; aber dieses »Geheimnis« könnte weder enthüllt werden noch wäre die Theologie imstande, es auf irgendeine Weise verständlich zu machen, (102) wenn die menschliche Erkenntnis streng auf die Welt der sinnlichen Erfahrung beschränkt wäre. Die Metaphysik stellt sich deshalb als bevorzugte Vermittlung in der theologischen Forschung dar. Einer Theologie ohne metaphysischen Horizont würde es nicht gelingen, über die Analyse der religiösen Erfahrung hinauszutreten; außerdem würde sie es dem intellectus fidei unmöglich machen, den universalen und transzendenten Wert der geoffenbarten Wahrheit auf kohärente Weise zum Ausdruck zu bringen.
Wenn ich so sehr auf der metaphysischen Komponente bestehe, dann deshalb, weil ich davon überzeugt bin, daß sie der unumgängliche Weg ist, um die Krisensituation, die heutzutage große Teile der Philosophie durchzieht, zu überwinden und auf diese Weise manche in unserer Gesellschaft verbreiteten abwegigen Verhaltensweisen zu korrigieren.
84. Die Bedeutung des metaphysischen Anspruchs wird noch offenkundiger, wenn man die heutige Entwicklung der hermeneutischen Wissenschaften und der verschiedenen Sprachanalysen unter die Lupe nimmt. Die Ergebnisse, zu welchen diese Forschungen gelangen, können für das Glaubensverständnis sehr nützlich sein, insofern sie die Struktur unseres Denkens und Sprechens und den in der Sprache enthaltenen Sinn deutlich machen. Es gibt jedoch Vertreter dieser Wissenschaften, die dazu neigen, in ihren Forschungen dabei stehenzubleiben, wie die Wirklichkeit zu verstehen und zu benennen ist, während sie davon absehen, die Möglichkeiten zu überprüfen, die der Vernunft eigen sind, um das Wesen der Wirklichkeit zu entdecken. Muß man in einer solchen Haltung nicht eine Bestätigung der Vertrauenskrise hinsichtlich der Fähigkeiten der Vernunft sehen, wie sie unsere Zeit durchmacht? Wenn sich dann auf Grund aprioristischer Annahmen diese Auffassungen dazu anschicken, die Glaubensinhalte zu verwischen oder ihre Allgemeingültigkeit zu leugnen, so unterdrücken sie nicht nur die Vernunft, sondern stellen sich selbst ins Abseits. Denn der Glaube setzt ganz klar voraus, daß die menschliche Sprache fähig ist, die göttliche und transzendente Wirklichkeit auf allgemeingültige Weise auszudrücken. Wenn die Worte auch analog gebraucht werden, so sind sie dennoch nicht weniger bedeutungsträchtig. (103) Träfe dies nicht zu, würde das Wort Gottes, das immer göttliches Wort in menschlicher Sprache ist, nicht imstande sein, irgendetwas über Gott auszusagen. Die Auslegung dieses Wortes darf uns nicht nur von einer Interpretation auf die andere verweisen, ohne uns je dahin zu bringen, ihm eine schlichtweg wahre Aussage zu entnehmen; andernfalls gäbe es Offenbarung Gottes nicht, sondern nur die Formulierung menschlicher Auffassungen über Ihn und über das, was Er wahrscheinlich von uns denkt.
85. Ich bin mir wohl bewußt, daß diese vom Wort Gottes an die Philosophie gestellten Forderungen vielen, die die heutige Situation philosophischer Forschung erleben, schwierig erscheinen mögen. Ich greife deshalb auf, was die Päpste seit Generationen unaufhörlich lehren und was auch das II. Vatikanische Konzil bekräftigt hat, und möchte mit aller Deutlichkeit der Überzeugung Ausdruck geben, daß der Mensch imstande ist, zu einer einheitlichen und organischen Wissensschau zu gelangen. Das ist eine der Aufgaben, deren sich das christliche Denken im Laufe des nächsten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung wird annehmen müssen. Da die Bruchstückhaftigkeit des Wissens eine fragmentarische Annäherung an die Wahrheit mit der sich daraus ergebenden Sinnzersplitterung mit sich bringt, verhindert sie die innere Einheit des heutigen Menschen. Sollte sich die Kirche etwa nicht darüber Sorgen machen? Diese der Weisheit geltende Aufgabe erwächst den Bischöfen direkt aus dem Evangelium; sie können sich der Verpflichtung nicht entziehen, dieser Aufgabe nachzukommen.
Ich meine, daß alle, die heute als Philosophen den Forderungen entsprechen wollen, die das Wort Gottes an das menschliche Denken stellt, ihre Argumentation auf der Grundlage dieser Postulate und in Kontinuität mit jener großen Tradition erarbeiten sollten, die bei den antiken Philosophen anfängt und über die Kirchenväter sowie die Meister der Scholastik führt, um schließlich die grundlegenden Errungenschaften des modernen und zeitgenössischen Denkens zu erfassen. Wenn der Philosoph aus dieser Tradition zu schöpfen und sich an ihr zu inspirieren vermag, wird er es nicht versäumen, sich als getreuer Anhänger des Autonomieanspruchs des philosophischen Denkens zu erweisen.
In diesem Sinne ist es um so bedeutsamer, daß im Zusammenhang mit unserer gegenwärtigen Situation einige Philosophen zu Initiatoren der Wiederentdeckung der entscheidenden Rolle werden, die der Überlieferung für eine richtige Erkenntnisform zukommt. Der Verweis auf die Tradition ist nämlich nicht bloß eine Erinnerung an die Vergangenheit; er stellt vielmehr die Anerkennung eines Kulturerbes dar, das der ganzen Menschheit gehört. Man könnte sogar sagen, wir gehören zur Tradition und können nicht einfach über sie verfügen, wie wir wollen. Gerade diese Einwurzelung in der Überlieferung erlaubt uns heute, ein originelles, neues und in die Zukunft weisendes Denken zum Ausdruck zu bringen. Dieser Hinweis gilt auch in hohem Maße für die Theologie nicht nur, weil sie die lebendige Überlieferung der Kirche als Urquelle besitzt, (104) sondern auch weil sie dadurch fähig sein soll, sowohl die tiefe theologische Überlieferung, die die vorangegangenen Epochen geprägt hat, als auch die ununterbrochene philosophische Tradition zurückzugewinnen, die durch ihre wirkliche Weisheit die Grenzen von Raum und Zeit zu überwinden vermocht hat.
86. Das Bestehen auf der Notwendigkeit einer engen kontinuierlichen Beziehung des heutigen zu dem in der christlichen Tradition erarbeiteten philosophischen Denkens will der Gefahr zuvorkommen, die sich in manchen, heute besonders verbreiteten Denkrichtungen verbirgt. Ich halte es für angebracht, wenigstens kurz auf sie einzugehen, um ihre Irrtümer und die sich daraus für die philosophische Tätigkeit ergebenden Gefahren festzustellen.
Die erste dieser Denkrichtungen ist unter dem Namen Eklektizismus bekannt; ein Begriff, mit dem man die Haltung dessen bezeichnet, der in Forschung, Lehre und auch theologischer Argumentation einzelne, aus verschiedenen Philosophien stammende Ideen zu übernehmen pflegt, ohne sich um deren systematischen Zusammenhang und ihre Einbettung in einen geschichtlichen Kontext zu kümmern. Auf diese Weise gerät er in die Lage, den Wahrheitsanteil eines bestimmten Denkens nicht mehr von dem unterscheiden zu können, was an ihm möglicherweise irrtümlich oder unangemessen ist. Eine Extremform des Eklektizismus ist auch im rhetorischen Mißbrauch der philosophischen Begriffe erkennbar, der sich der eine oder andere Theologe bisweilen hingibt. Eine solche Instrumentalisierung dient nicht der Wahrheitssuche und erzieht weder die theologische noch die philosophische Vernunft zu ernsthafter, wissenschaftlicher Argumentation. Das konsequente und gründliche Studium der philosophischen Lehren, ihrer besonderen Sprache und des Umfeldes ihrer Entstehung hilft, die Gefahren des Eklektizismus zu überwinden, und erlaubt eine angemessene Integration dieser Lehren in die theologische Argumentation.
87. Der Eklektizismus ist ein methodischer Irrtum, könnte aber auch Auffassungen in sich bergen, die für den Historizismus typisch sind. Um eine Lehre aus der Vergangenheit richtig zu verstehen, muß man sie in ihren geschichtlichen und kulturellen Zusammenhang einordnen. Die Grundthese des Historizismus besteht hingegen darin, daß die Wahrheit einer Philosophie auf der Grundlage ihrer Angemessenheit für eine bestimmte Periode und eine bestimmte historische Aufgabe festgestellt wird. Auf diese Weise wird, wenigstens implizit, die ewige Gültigkeit des Wahren geleugnet. Was in einer Epoche wahr gewesen ist, so behauptet der Historist, braucht es in einer anderen Zeit nicht mehr zu sein. Die Geschichte des Denkens wird für ihn somit kaum mehr als ein archäologischer Fund, aus dem man schöpft, um Positionen der Vergangenheit herauszustellen, die nunmehr großenteils überholt und für die Gegenwart ohne Bedeutung sind. Dagegen gilt es zu bedenken, daß man in der Formulierung, auch wenn sie in gewisser Weise an die Zeit und die Kultur gebunden ist, die in ihr ausgedrückte Wahrheit oder den Irrtum trotz der räumlichen und zeitlichen Distanz auf jeden Fall erkennen und als solche bewerten kann.
Im theologischen Denken präsentiert sich der Historizismus meistens in einer Form des »Modernismus«. Mit der berechtigten Sorge, die theologische Argumentation zeitgemäß und für den heutigen Menschen annehmbar zu machen, bedient man sich nur jüngster Aussagen und des gängigen philosophischen Jargons; dabei werden die kritischen Ansprüche vernachlässigt, die im Lichte der Überlieferung eventuell erhoben werden müßten. Weil diese Form des Modernismus Aktualität mit Wahrheit verwechselt, erweist sie sich als unfähig, die Wahrheitsansprüche zu befriedigen, auf welche die Theologie Antwort zu geben berufen ist.
88. Eine weitere Gefahr, auf die es zu achten gilt, ist der Szientismus. Diese philosophische Auffassung weigert sich, neben den Erkenntnisformen der positiven Wissenschaften andere Weisen der Erkenntnis als gültig zuzulassen, indem sie sowohl die religiöse und theologische Erkenntnis als auch das ethische und ästhetische Wissen in den Bereich der reinen Phantasie verbannt. In der Vergangenheit äußerte sich diese Vorstellung im Positivismus und Neopositivismus, die Aussagen metaphysischen Charakters für sinnlos hielten. Die epistemologische Kritik hat diese Einstellung in Mißkredit gebracht; so ist sie jetzt dabei, im Gewand des Szientismus wiederzuerstehen. In dieser Sicht werden die Werte in einfache Produkte des Gefühls verbannt; die Erkenntnis des Seins wird zurückgestellt, um der reinen Tatsächlichkeit Platz zu machen. Die Wissenschaft bereitet sich also darauf vor, sämtliche Aspekte des menschlichen Daseins durch den technologischen Fortschritt zu beherrschen. Die unbestreitbaren Erfolge der naturwissenschaftlichen Forschung und der modernen Technologie haben zur Verbreitung der szientistischen Gesinnung beigetragen. Diese scheint grenzenlos zu sein in Anbetracht dessen, wie sie in die verschiedenen Kulturen eingedrungen ist und welche radikalen Umwälzungen sie dort herbeigeführt hat.
Man muß leider feststellen, daß alles, was die Frage nach dem Sinn des Lebens betrifft, vom Szientismus in den Bereich des Irrationalen oder Imaginären verwiesen wird. Nicht minder enttäuschend ist die Art, in der diese Denkströmung an die anderen großen Probleme der Philosophie herangeht. Sofern sie nicht ignoriert werden, begegnet man ihnen mit Analysen, die sich auf oberflächliche Analogien stützen, die einer rationalen Grundlage entbehren. Das führt zur Verarmung des menschlichen Denkens, dem jene Grundprobleme entzogen werden, die sich das animal rationale von Anbeginn seines Erdendaseins an ständig gestellt hat. Nachdem aus dieser Perspektive die aus der sittlichen Bewertung stammende Kritik zurückgestellt worden war, gelang es der szientistischen Denkart, viele zur Annahme der Vorstellung zu bringen, wonach das, was technisch machbar ist, eben dadurch auch moralisch annehmbar wird.
89. Von nicht geringeren Gefahren kündet der Pragmatismus, eine für diejenigen typische Denkhaltung, die es in ihren Entscheidungsprozessen ausschließen, auf theoretische Überlegungen zurückzugreifen oder auf ethischen Prinzipien gestützte Bewertungen vorzunehmen. Die praktischen Folgen aus dieser Denkrichtung sind beträchtlich. Insbesondere hat sich ein Demokratieverständnis durchgesetzt, das den Bezug zu wertorientierten und deshalb unwandelbaren Grundlagen unberücksichtigt läßt: Die Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit eines bestimmten Verhaltens entscheidet sich auf Grund des Votums der parlamentarischen Mehrheit. (105) Welche Konsequenzen ein solcher Ansatz hat, liegt auf der Hand: Die großen moralischen Entscheidungen des Menschen werden in Wirklichkeit den Beschlüssen untergeordnet, die nach und nach von den institutionellen Organen an sich gezogen werden. Mehr noch: Die Anthropologie selbst gerät in massive Abhängigkeit durch das Angebot einer eindimensionalen Sicht vom Menschen, der die großen sittlichen Nöte und die existentiellen Analysen über den Sinn von Leiden und Opfer, von Leben und Tod fern sind.
90. Die bis jetzt untersuchten Anschauungen führen ihrerseits zu einer allgemeineren Auffassung, die heute für viele Philosophien, die sich vom Sinn des Seins verabschiedet haben, den gemeinsamen Horizont zu bilden scheint. Ich meine die nihilistische Deutung, die zugleich die Ablehnung jeder Grundlage und die Leugnung jeder objektiven Wahrheit ist. Der Nihilismus ist, ehe er noch im Gegensatz zu den Ansprüchen und Inhalten des Wortes Gottes steht, Verneinung der Humanität des Menschen und seiner Identität. Denn man darf nicht übersehen, daß die Seinsvergessenheit unvermeidlich den Kontaktverlust mit der objektiven Wahrheit und daher mit dem Grund zur Folge hat, auf dem die Würde des Menschen fußt. So wird der Möglichkeit Platz geschaffen, vom Angesicht des Menschen die Züge zu löschen, die seine Gottähnlichkeit offenbaren, um ihn fortschreitend entweder zu einem zerstörerischen Machtwillen oder in die Verzweiflung der Einsamkeit zu treiben. Wenn man dem Menschen einmal die Wahrheit genommen hat, ist die Behauptung, ihn befreien zu wollen, reine Illusion. Wahrheit und Freiheit verbinden sich entweder miteinander oder sie gehen gemeinsam elend zugrunde. (106)
91. Wenn ich auf die eben erwähnten Denkrichtungen einging, war es nicht meine Absicht, ein vollständiges Bild von der aktuellen Situation der Philosophie zu bieten: Sie ließe sich im übrigen schwerlich auf eine einheitliche Sicht reduzieren. Ich möchte unterstreichen, daß das Erbe an Wissen und Weisheit tatsächlich auf verschiedenen Gebieten eine Bereicherung erfahren hat. Es seien genannt: die Logik, die Sprachphilosophie, die Epistemologie, die Naturphilosophie, die Anthropologie, die eingehende Analyse der affektiven Erkenntniswege, die existentielle Annäherung an die Analyse der Freiheit. Andererseits hat die Bejahung des Immanenzprinzips, die im Mittelpunkt des rationalistischen Anspruchs steht, seit dem vorigen Jahrhundert Reaktionen ausgelöst, die in bezug auf Postulate, die für unbestreitbar gehalten wurden, zu einem radikalen Verlust geführt haben. Auf diese Weise sind irrationale Strömungen entstanden, während die Kritik die Vergeblichkeit des absoluten Selbstbegründungsanspruchs der Vernunft hervorhob.
Unsere Zeit ist von einigen Denkern als die Epoche der »Post-Moderne« eingestuft worden. Dieser Begriff, der nicht selten in voneinander sehr weit entfernten Zusammenhängen verwendet wird, bezeichnet das Auftauchen einer Gesamtheit neuer Faktoren, die im Hinblick auf ihre Verbreitung und Wirksamkeit erkennen ließen, daß sie bedeutsame und dauerhafte Veränderungen zu verursachen vermögen. So ist der Begriff anfangs auf ästhetische, soziale und technologische Phänomene angewandt worden. Später wurde er in den philosophischen Bereich übertragen, wobei er jedoch eine gewisse Zweideutigkeit aufwies sowohl deshalb, weil das Urteil über das, was als »postmodern« eingestuft wird, manchmal positiv und manchmal negativ ist, als auch daher, weil es kein Einvernehmen über das heikle Problem der Abgrenzung der verschiedenen Geschichtsepochen gibt. Eines steht jedoch außer Zweifel: Die Denkrichtungen, die sich auf die Post-Moderne berufen, verdienen entsprechende Aufmerksamkeit. Denn nach Ansicht einiger von ihnen wäre die Zeit der Gewißheiten hoffnungslos vorbei; nunmehr müßte der Mensch lernen, vor einem Horizont völliger Sinnferne im Zeichen des Vorläufigen und Vergänglichen zu leben. In ihrer zerstörerischen Kritik an jeder Gewißheit ignorieren zahlreiche Autoren die notwendigen Unterscheidungen und leugnen auch die Glaubensgewißheiten.
Dieser Nihilismus findet eine Art Bestätigung in der schrecklichen Erfahrung des Bösen, die unser Zeitalter gezeichnet hat. Der Dramatik dieser Erfahrung gegenüber vermochte der rationalistische Optimismus, der in der Geschichte den fortschreitenden Sieg der Vernunft als Quelle von Glück und Freiheit sah, nicht standzuhalten, so daß eine der ärgsten Bedrohungen am Ende dieses Jahrhunderts die Versuchung der Verzweiflung ist.
Es trifft jedoch zu, daß eine bestimmte positivistische Geisteshaltung weiterhin die Illusion glaubhaft macht, daß dank der naturwissenschaftlichen und technischen Errungenschaften der Mensch als Weltenschöpfer von sich allein aus dahin gelangen könne, sich der völligen Herrschaft über sein Schicksal zu versichern.
Aktuelle Aufgaben für die Theologie [92-99]
92. Was das Verständnis der Offenbarung betrifft, so mußte die Theologie in den unterschiedlichen Geschichtsepochen stets die Ansprüche der verschiedenen Kulturen aufnehmen, um dann in ihnen mit einer in sich stimmigen Begrifflichkeit den Glaubensinhalt zu vermitteln. Auch heute hat sie eine doppelte Aufgabe. Denn sie muß einerseits der Verpflichtung nachkommen, die ihr das II. Vatikanische Konzil seinerzeit übertragen hat: Erneuerung ihrer Methoden im Hinblick auf einen wirkungsvolleren Dienst an der Evangelisierung. Sollte man aus dieser Sicht etwa nicht an die Worte denken, die von Papst Johannes XXIII. bei der Eröffnung des Konzils gesprochen worden sind? Er sagte damals: »Es ist notwendig, daß der lebendigen Erwartung derer, die wahrhaft die christliche, katholische und apostolische Religion lieben, entsprochen wird und daß diese Lehre in einer breiteren und tieferen Weise bekannt wird; es ist notwendig, daß die einzelnen besser gebildet und geformt werden; es ist notwendig, daß diese sichere und unveränderliche Lehre, die getreu eingehalten werden soll, in einer Weise vertieft und dargelegt wird, die den Erfordernissen unserer Zeit entspricht«. (107)
Andererseits muß die Theologie die Augen auf die letzte Wahrheit richten, die ihr mit der Offenbarung anvertraut wird, ohne sich mit einem Verweilen in Zwischenstadien zufrieden zu geben. Der Theologe tut gut daran sich zu erinnern, daß seine Arbeit »der Dynamik entspricht, die dem Glauben selber innewohnt«, und daß das eigentliche Objekt seines Forschens »die Wahrheit, nämlich der lebendige Gott und sein in Jesus Christus geoffenbarter Heilsplan« ist. (108) Diese Aufgabe, die in erster Linie die Theologie angeht, fordert zugleich die Philosophie heraus. Das Ausmaß der Probleme, die sich heute aufdrängen, erfordert in der Tat eine gemeinsame, wenn auch mit verschiedenen Methoden durchgeführte Arbeit, damit die Wahrheit wieder erkannt und zum Ausdruck gebracht wird. Die Wahrheit, die Christus ist, erscheint nötig als universale Autorität, die sowohl die Theologie als auch die Philosophie leitet, anregt und wachsen läßt(vgl. Eph 4, 15).
An die Möglichkeit des Erkennens einer allgemeingültigen Wahrheit zu glauben, ist keineswegs eine Quelle der Intoleranz; im Gegenteil, es ist die notwendige Voraussetzung für einen ehrlichen und glaubwürdigen Dialog der Menschen untereinander. Nur unter dieser Voraussetzung ist es möglich, die trennenden Uneinigkeiten zu überwinden und gemeinsam den Weg zur ganzen, ungeteilten Wahrheit einzuschlagen, indem wir jenen Pfaden folgen, die allein der Geist des auferstandenen Herrn kennt. (109)
Wie sich die Forderung nach Einheit heute im Hinblick auf die aktuellen Aufgaben der Theologie konkret gestaltet, möchte ich jetzt aufzeigen.
93. Das Hauptziel, das die Theologie anstrebt, besteht darin, das Verständnis der Offenbarung und den Glaubensinhalt darzulegen. Der tatsächliche Mittelpunkt ihrer Reflexion wird darum die Betrachtung des Geheimnisses vom dreieinigen Gott sein. Zu diesem hat man Zugang, wenn man über das Mysterium der Inkarnation des Gottessohnes nachdenkt: über seine Menschwerdung und sein konsequentes Aufsichnehmen von Leiden und Tod, ein Mysterium, das einmünden wird in seine glorreiche Auferstehung und Erhöhung zur Rechten des Vaters; von dort wird er den Geist der Wahrheit aussenden, um seine Kirche zu stiften und zu beseelen. Vorrangige Aufgabe der Theologie wird vor diesem Horizont das Verständnis der kenosis Gottes sein, ein wahrhaft großes Geheimnis für den menschlichen Geist, dem es unhaltbar erscheint, daß Leiden und Tod die Liebe auszudrücken vermögen, die sich hingibt, ohne etwas dafür einzufordern. Aus dieser Perspektive ist eine sorgfältige Analyse der Texte grundlegend und dringend geboten: zuerst der Schrifttexte, dann jener Texte, in denen die lebendige Überlieferung der Kirche Ausdruck findet. In diesem Zusammenhang stellen sich heute manche, nur zum Teil neue Probleme, für die man keine entsprechende Lösung wird finden können, wenn man auf den Beitrag der Philosophie verzichtet.
94. Ein erster problematischer Aspekt betrifft das Verhältnis von Bedeutung und Wahrheit. Wie jeder andere Text, so übermitteln auch die Quellen, die der Theologe auslegt, zunächst eine Bedeutung, die erhoben und dargelegt werden muß. Nun erscheint diese Bedeutung als die Wahrheit über Gott, die von Gott selber durch den heiligen Text mitgeteilt wird. Die Sprache Gottes, der durch den wunderbaren, die Logik der Menschwerdung widerspiegelnden »Mitabstieg« seine Wahrheit mitteilt, nimmt also in der menschlichen Sprache Gestalt an. (110) Der Theologe muß sich bei der Auslegung der Offenbarungsquellen daher fragen, welches die tiefe und unverfälschte Wahrheit ist, die die Texte, freilich in den Grenzen der Sprache, mitteilen wollen.
Was die biblischen Texte und besonders die Evangelien betrifft, so reduziert sich ihre Wahrheit sicher nicht auf die Erzählung einfacher historischer Geschehnisse oder auf die Enthüllung neutraler Fakten, wie es der historizistische Positivismus gern hätte. (111) Im Gegenteil, diese Texte berichten von Ereignissen, deren Wahrheit jenseits des gewöhnlichen geschichtlichen Geschehens liegt: sie liegt in ihrer Bedeutung in der und für die Heilsgeschichte. Ihre vollständige Darstellung findet diese Wahrheit in der fortwährenden Lesung und Deutung, welche die Kirche im Laufe der Jahrhunderte von diesen Texten vornimmt, wobei sie deren ursprüngliche Bedeutung unverändert bewahrt. Es ist daher dringend geboten, daß man sich auch philosophisch nach dem Verhältnis fragt, das zwischen dem Faktum und seiner Bedeutung besteht; ein Verhältnis, das den besonderen Sinn der Geschichte begründet.
95. Das Wort Gottes wendet sich nicht an ein einziges Volk oder an eine bestimmte Epoche. In gleicher Weise formulieren die dogmatischen Aussagen, auch wenn sie bisweilen unter dem Einfluß der Kultur der Zeit stehen, in der sie definiert werden, eine feststehende und endgültige Wahrheit. Es erhebt sich also die Frage, wie sich die Absolutheit und Universalität der Wahrheit mit der unvermeidlichen Abhängigkeit der sie wiedergebenden Formeln von Geschichte und Kultur versöhnen läßt. Wie ich vorhin sagte, sind die Ansichten des Historizismus unvertretbar. Hingegen ist die Anwendung einer Hermeneutik, die für den metaphysischen Anspruch offen ist, in der Lage zu zeigen, wie sich von den historischen Umständen und Zufällen her, unter denen die Texte herangereift sind, der Übergang zu der von ihnen zum Ausdruck gebrachten Wahrheit vollzieht, die diese Abhängigkeiten hinter sich läßt.
Der Mensch vermag mit Hilfe seiner begrenzten geschichtlichen Sprache Wahrheiten auszudrücken, die das Sprachereignis transzendieren. Denn die Wahrheit kann niemals auf die Zeit und die Kultur beschränkt werden; sie ist in der Geschichte zu erkennen, übersteigt aber diese Geschichte.
96. Diese Überlegung läßt uns die Lösung eines anderen Problems erahnen: nämlich das Problem der immerwährenden Gültigkeit der in den Konzilsdefinitionen verwendeten Begriffssprache. Schon mein ehrwürdiger Vorgänger Pius XII. hat sich in seiner Enzyklika Humani generis mit dieser Frage auseinandergesetzt. (112)
Die Reflexion über dieses Thema fällt nicht leicht, weil man ernsthaft dem Sinn Rechnung tragen muß, den die Worte in den verschiedenen Kulturen und in verschiedenen Epochen erhalten. Die Geschichte des Denkens zeigt allerdings, daß bestimmte Grundbegriffe durch die Entwicklung und die Vielfalt der Kulturen hindurch ihren universalen Erkenntniswert und somit die Wahrheit der Sätze, die sie ausdrücken, bewahren. (113) Andernfalls könnten die Philosophie und die Naturwissenschaften sich nicht untereinander austauschen, noch könnten sie von Kulturen übernommen werden, die verschieden von jenen sind, in denen sie erdacht und erarbeitet wurden. Das hermeneutische Problem besteht also, ist aber lösbar. Der realistische Wert vieler Begriffe schließt im übrigen nicht aus, daß ihre Bedeutung oft unvollständig ist. Das philosophische Denken könnte auf diesem Gebiet sehr hilfreich sein. Sein besonderer Einsatz bei der Vertiefung des Verhältnisses von Begriffssprache und Wahrheit und beim Angebot geeigneter Wege für ein richtiges Verständnis dieses Verhältnisses ist daher wünschenswert.
97. Wenngleich die Auslegung der Quellen eine wichtige Aufgabe der Theologie ist, so gilt ein weiteres, noch schwierigeres und anspruchsvolleres Bemühen dem Verständnis der geoffenbarten Wahrheit bzw. dem Prozeß des intellectus fidei. Der intellectus fidei verlangt, wie ich schon angedeutet habe, den Beitrag einer Philosophie des Seins, die es vor allem der dogmatischen Theologie erlaubt, ihre Funktionen auf angemessene Weise auszuüben. Der dogmatische Pragmatismus vom Anfang dieses Jahrhunderts, wonach die Glaubenswahrheiten nichts anderes als Verhaltensregeln wären, ist bereits abgelehnt und zurückgewiesen worden; (114) trotzdem bleibt immer die Versuchung bestehen, diese Wahrheiten rein funktional zu verstehen. In diesem Fall würde man in ein unangemessenes und verkürztes Schema verfallen, dem die spekulative Klarheit fehlt. Eine Christologie zum Beispiel, die einseitig »von unten« vorginge, wie man heute zu sagen pflegt, oder eine Ekklesiologie, die ausschließlich nach dem Vorbild bürgerlicher Gesellschaften aufgebaut ist, könnten die Gefahr einer derartigen Verkürzung kaum vermeiden.
Wenn der intellectus fidei den ganzen Reichtum der theologischen Überlieferung integrieren soll, muß er sich der Philosophie des Seins bedienen. Diese Philosophie des Seins wird fähig sein müssen, das Problem des Seins je nach den Ansprüchen und Beiträgen der ganzen philosophischen Tradition auch der aus jüngster Zeit wieder aufzugreifen; dabei muß sie aber vermeiden, in blutleere Wiederholungen veralteter Schemata zu verfallen. Die Philosophie des Seins ist im Rahmen der christlichen metaphysischen Überlieferung eine dynamische Philosophie, welche die Wirklichkeit in ihren ontologischen, kausalen und kommunikativen Strukturen sieht. Sie findet ihre Kraft und Beständigkeit darin, daß sie sich auf den Seinsakt selber stützt, der die volle und globale Öffnung gegenüber der ganzen Wirklichkeit gestattet. Dabei überschreitet sie jede Grenze, bis sie Den erreicht, der allem Vollendung schenkt. (115) In der Theologie, die ihre Prinzipien von der Offenbarung als neuer Erkenntnisquelle erhält, wird diese Sicht entsprechend dem engen Verhältnis zwischen Glaube und metaphysischer Vernünftigkeit bestätigt.
98. Ähnliche Überlegungen lassen sich auch in bezug auf die Moraltheologie anstellen. Die Wiedergewinnung der Philosophie ist auch für das Glaubensverständnis, das sich auf das Handeln der Gläubigen bezieht, dringend nötig. Angesichts der heutigen Herausforderungen auf sozialem, wirtschaftlichem, politischem und wissenschaftlichem Gebiet ist das sittliche Gewissen des Menschen desorientiert. In der Enzyklika Veritatis splendor habe ich hervorgehoben, daß viele der in der heutigen Welt vorhandenen Probleme einer »Krise um die Wahrheit« entstammen. »Nachdem die Idee von einer für die menschliche Vernunft erkennbaren universalen Wahrheit über das Gute verloren gegangen war, hat sich unvermeidlich auch der Begriff des Gewissens gewandelt; das Gewissen wird nicht mehr in seiner ursprünglichen Wirklichkeit gesehen, das heißt als ein Akt der Einsicht der Person, der es obliegt, die allgemeine Erkenntnis des Guten auf eine bestimmte Situation anzuwenden und so ein Urteil über das richtige zu wählende Verhalten zu fällen; man stellte sich darauf ein, dem Gewissen des Einzelnen das Vorrecht zuzugestehen, die Kriterien für Gut und Böse autonom festzulegen und dementsprechend zu handeln. Diese Sicht ist nichts anderes als eine individualistische Ethik, aufgrund welcher sich jeder mit seiner Wahrheit, die von der Wahrheit der anderen verschieden ist, konfrontiert sieht«. (116)
In der gesamten Enzyklika habe ich die fundamentale Rolle, die der Wahrheit im Bereich der Moral zukommt, klar und deutlich unterstrichen. Was den Großteil der dringendsten ethischen Probleme betrifft, verlangt diese Wahrheit von seiten der Moraltheologie ein aufmerksames Nachdenken, das fähig ist, auf seine Wurzeln im Wort Gottes hinzuweisen. Um diesen Auftrag erfüllen zu können, muß sich die Moraltheologie einer der Wahrheit des Guten zugewandten philosophischen Ethik bedienen; einer Ethik also, die weder subjektivistisch noch utilitaristisch ist. Die erforderliche Ethik impliziert und setzt eine philosophische Anthropologie und eine Metaphysik des Guten voraus. Wenn die Moraltheologie diese einheitliche Auffassung anwendet, die notwendigerweise mit der christlichen Heiligkeit und mit der Übung der menschlichen und übernatürlichen Tugenden verbunden ist, wird sie imstande sein, in höchst angemessener und wirksamer Weise die verschiedenen Probleme anzugehen, für die sie zuständig ist: der Friede, die soziale Gerechtigkeit, die Familie, die Verteidigung des Lebens und der Umwelt.
99. Die theologische Arbeit in der Kirche steht zuallererst im Dienst der Glaubensverkündigung und der Katechese. (117) Die Verkündigung oder das Kerygma ruft zur Umkehr, indem die Wahrheit Christi dargelegt wird, die im Ostergeheimnis ihren Höhepunkt erreicht: denn allein in Christus ist es möglich, die Fülle der rettenden Wahrheit zu erkennen (vgl. Apg 4, 12; 1 Tim 2, 4-6).
In diesem Zusammenhang versteht man gut, warum außer der Theologie auch dem Bezug zur Katechese eine beträchtliche Bedeutung zukommt: sie besitzt nämlich philosophische Implikationen, die im Lichte des Glaubens vertieft werden müssen. Die in der Katechese vermittelte Lehre hat für die Person eine bildende Wirkung. Die Katechese, die auch sprachliche Mitteilung ist, muß die Lehre der Kirche in ihrer Vollständigkeit vorlegen, (118) indem sie deren Ansatzpunkt mit dem Leben der Gläubigen aufzeigt. (119) So verwirklicht sich eine einzigartige Verbindung zwischen Lehre und Leben, die andernfalls unmöglich zu erreichen ist. Denn was in der Katechese mitgeteilt wird, ist nicht eine Sammlung begrifflicher Wahrheiten, sondern das Geheimnis des lebendigen Gottes. (120)
Die philosophische Reflexion kann viel beitragen zur Klärung des Verhältnisses von Wahrheit und Leben, von Ereignis und lehrmäßiger Wahrheit. Besonders kann sie zur Klärung der Beziehung zwischen transzendenter Wahrheit und menschlich verständlicher Sprache beitragen. (121) Die Wechselbeziehung, die zwischen den theologischen Fächern und den von den verschiedenen philosophischen Strömungen erreichten Ergebnissen entsteht, vermag also eine wirkliche Fruchtbarkeit zum Ausdruck zu bringen, was die Vermittlung des Glaubens und sein tieferes Verständnis anbelangt.