Fides et Ratio: Kapitel IV
Einleitung
Kapitel I: Die Offenbarung der Weisheit Gottes
Kapitel II: Credo ut intellegam
Kapitel III: Intellego ut credam
Kapitel IV: Das Verhältnis von Glaube und Vernunft
Kapitel V: Die Wortmeldungen des Lehramtes im philosophischen Bereich
Kapitel VI: Die Wechselwirkung zwischen Theologie und Philosophie
Kapitel VII: Aktuelle Forderungen und Aufgaben
Schluss
Anmerkungen


KAPITEL IV

DAS VERHÄLTNIS
VON GLAUBE UND VERNUNFT

Bedeutsame Schritte der Begegnung zwischen Glaube und Vernunft [36-42]

36. Nach dem Zeugnis der Apostelgeschichte sah sich die christliche Verkündigung von Anfang an mit den zeitgenössischen philosophischen Strömungen konfrontiert. So berichtet das Buch darüber, daß der hl. Paulus in Athen mit »einigen epikureischen und stoischen Philosophen« diskutierte (17, 18). Die exegetische Analyse jener Rede, die der Apostel im Areopag gehalten hatte, hob die wiederholten Anspielungen auf populäre Überzeugungen zumeist stoischer Herkunft hervor. Das war sicher kein Zufall. Um von den Heiden verstanden zu werden, konnten es die ersten Christen in ihren Reden nicht beim Hinweis »auf Mose und die Propheten« bewenden lassen; sie mußten sich auch auf die natürliche Gotteserkenntnis und auf die Stimme des moralischen Gewissens jedes Menschen stützen (vgl. Röm 1, 19-21; 2, 14-15; Apg 14, 14-16). Da diese natürliche Erkenntnis jedoch in der heidnischen Religion zum Götzendienst verkommen war (vgl. Röm 1, 21-32), hielt es der Apostel für klüger, seine Rede mit dem Denken der Philosophen zu verknüpfen, die von Anfang an den Mythen und Mysterienkulten Gedanken entgegengesetzt hatten, die der göttlichen Transzendenz größere Achtung entgegenbrachten.

Die Gottesvorstellung der Menschen von mythologischen Formen zu reinigen, war in der Tat eine der größten Anstrengungen, die die Philosophen des klassischen Denkens unternommen haben. Wie wir wissen, war auch die griechische Religion, nicht anders als die meisten kosmischen Religionen, polytheistisch. Dabei ging sie so weit, daß sie Dinge und Naturphänomene vergöttlichte. Die Versuche des Menschen, den Ursprung der Götter und in ihnen des Universums zu begreifen, fanden ihren ersten Ausdruck in der Dichtkunst. Die Theogonien sind bis heute das erste Zeugnis dieser Suche des Menschen. Aufgabe der Väter der Philosophie war es, den Zusammenhang zwischen Vernunft und Religion sichtbar zu machen. Da sie den Blick auf allgemeine Prinzipien hin ausweiteten, gaben sie sich nicht mehr mit alten Mythen zufrieden, sondern wollten ihrem Glauben an die Gottheit eine rationale Grundlage geben. So wurde ein Weg eingeschlagen, der, ausgehend von den einzelnen alten Überlieferungen, in eine Entwicklung einmündete, die den Anforderungen der allgemeinen Vernunft entsprach. Das Ziel, das diese Entwicklung anstrebte, war das kritische Bewußtsein dessen, woran man glaubte. Dieser Weg schlug sich positiv zunächst in der Gottesvorstellung nieder. Formen von Aberglauben wurden als solche erkannt, und die Religion wurde durch die Kraft der rationalen Analyse wenigstens zum Teil geläutert. Auf dieser Grundlage begannen die Kirchenväter einen fruchtbaren Dialog mit den antiken Philosophen und bahnten so der Verkündigung und dem Verständnis des Gottes Jesu Christi den Weg.

37. Wenn man auf diese Annäherungsbewegung der Christen an die Philosophie hinweist, muß man freilich auch die vorsichtige Haltung erwähnen, die andere Elemente der heidnischen Kulturwelt, wie zum Beispiel die Gnosis, bei ihnen hervorriefen. Als praktische Weisheit und Lebensschule konnte die Philosophie leicht mit einer Erkenntnis höherer, esoterischer Art, die nur wenigen Vollkommenen vorbehalten war, verwechselt werden. Zweifellos denkt der hl. Paulus an diese Weise esoterischer Spekulationen, wenn er die Kolosser warnt: »Gebt acht, daß euch niemand mit seiner Philosophie und falschen Lehre verführt, die sich nur auf menschliche Überlieferung stützen und sich auf die Elementarmächte der Welt, nicht auf Christus berufen« (2, 8). Die Worte des Apostels erscheinen äußerst aktuell, wenn wir sie auf die verschiedenen Formen der Esoterik beziehen, die heutzutage auch bei manchen Gläubigen, denen es am erforderlichen kritischen Sinn mangelt, um sich greifen. Dem Beispiel des hl. Paulus folgend erhoben andere Schriftsteller der ersten Jahrhunderte, im besonderen der hl. Irenäus und Tertullian, ihrerseits Vorbehalte gegen eine kulturelle Konzeption, die forderte, die Wahrheit der Offenbarung der Interpretation der Philosophen unterzuordnen.

38. Die Begegnung des Christentums mit der Philosophie erfolgte also weder spontan noch war sie einfach. Die Tätigkeit der Philosophen und der Besuch ihrer Schulen erschien den ersten Christen eher als Störung denn als Chance. Für sie war die erste, dringende Aufgabe die Verkündigung des auferstandenen Christus in einer persönlichen Begegnung, die den Gesprächspartner zur inneren Umkehr und zur Bitte um die Taufe führen sollte. Das heißt freilich nicht, daß sie die Aufgabe, das Verständnis des Glaubens und seiner Begründungen zu vertiefen, unbeachtet gelassen hätten. Im Gegenteil: Die Kritik des Kelsos, der die Christen bezichtigt, »ungebildete und grobschlächtige« Leute(31) zu sein, stellt sich daher als ungerecht und als Vorwand heraus. Die Erklärung für ihre anfängliche Gleichgültigkeit muß anderswo gesucht werden. In Wirklichkeit bot die Begegnung mit dem Evangelium eine derart befriedigende Antwort auf die bis dahin ungelöste Frage nach dem Sinn des Lebens, daß ihnen der Umgang mit den Philosophen wie eine ferne und in gewisser Hinsicht überholte Angelegenheit vorkam.

Das erscheint heute noch klarer, wenn man an jenen Beitrag des Christentums denkt, der in der Bestätigung des Rechtes aller auf Zugang zur Wahrheit besteht. Das Christentum hatte nach dem Niederreißen der durch Rasse, sozialen Stand und Geschlecht bedingten Schranken von Anfang an die Gleichheit aller Menschen vor Gott verkündet. Die erste Konsequenz dieser Auffassung wandte man auf das Thema Wahrheit an. Der elitäre Charakter, den die Wahrheitssuche bei den Alten hatte, wurde mit Entschlossenheit überwunden: Da der Zugang zur Wahrheit ein Gut ist, das es ermöglicht, zu Gott zu gelangen, müssen alle in der Lage sein, diesen Weg gehen zu können. Die Wege, um die Wahrheit zu erreichen, sind vielfältig; dennoch kann, da die christliche Wahrheit Heilswert besitzt, jeder dieser Wege nur dann eingeschlagen werden, wenn er zum letzten Ziel, das heißt zur Offenbarung Jesu Christi, führt.

Als Pionier einer positiven Begegnung mit dem philosophischen Denken, wenn auch unter dem Vorzeichen vorsichtiger Unterscheidung, muß der hl. Justin genannt werden: Obwohl er sich seine große Wertschätzung für die griechische Philosophie auch nach seiner Bekehrung bewahrt hatte, beteuerte er klar und entschieden, im Christentum »die einzige sichere und nutzbringende Philosophie« gefunden zu haben.(32) Ähnlich nannte Clemens Alexandrinus das Evangelium »die wahre Philosophie«(33) und interpretierte die Philosophie in Analogie zum mosaischen Gesetz als eine Vorunterweisung für den christlichen Glauben(34) und eine Vorbereitung auf das Evangelium.(35) Denn »nach dieser Weisheit trägt die Philosophie Verlangen; diese ist ein Streben der Seele sowohl nach der Fähigkeit richtigen Denkens als auch nach der Reinheit des Lebens; sie ist gegen die Weisheit freundschaftlich und liebevoll gesinnt und tut alles, um ihrer teilhaftig zu werden. Philosophen aber heißen bei uns diejenigen, die nach der Weisheit, die alle Dinge geschaffen hat und alles lehrt, Verlangen tragen, das heißt nach der Erkenntnis des Sohnes Gottes«.(36) Hauptzweck der griechischen Philosophie ist für den Alexandriner nicht die Ergänzung oder Stärkung der christlichen Wahrheit; ihre Aufgabe ist vielmehr die Verteidigung des Glaubens: »In sich vollendet und keiner Ergänzung bedürftig ist die Lehre im Sinne des Erlösers, da sie göttliche Kraft und Weisheit ist. Wenn aber die griechische Weisheit hinzukommt, so macht sie die Wahrheit zwar nicht wirksamer, aber weil sie die sophistischen Angriffe entkräftet und die listigen Angriffe gegen die Wahrheit abwehrt, ist sie mit Recht Zaun und Mauer des Weinbergs genannt worden«.(37)

39. In der Geschichte dieser Entwicklung läßt sich jedenfalls die kritische Übernahme des philosophischen Denkens seitens der christlichen Denker feststellen. Unter den ersten Beispielen, denen man begegnen kann, ist Origenes sicher von maßgebender Bedeutung. Um auf die vom Philosophen Kelsos erhobenen Angriffe zu antworten und ihnen zu entgegnen, übernimmt Origenes die platonische Philosophie. Unter Einbeziehung zahlreicher Elemente des platonischen Denkens geht er daran, zum ersten Mal so etwas wie eine christliche Theologie zu erarbeiten. Der Name Theologie ebenso wie die Vorstellung von ihr als vernünftiges Reden über Gott war nämlich bis dahin noch an ihren griechischen Ursprung gebunden. In der aristotelischen Philosophie zum Beispiel bezeichnete der Ausdruck den vornehmsten Teil und eigentlichen Höhepunkt der philosophischen Erörterung. Was vorher auf eine allgemeine Lehre über die Götter hindeutete, bekam hingegen im Lichte der christlichen Offenbarung eine ganz neue Bedeutung, weil Theologie nunmehr das Nachdenken bezeichnete, das der Glaubende vollzog, um die wahre Lehre über Gott zu formulieren. Dieses in ständiger Weiterentwicklung begriffene neue christliche Denken bediente sich der Philosophie, war aber gleichzeitig auf klare Unterscheidung von ihr bedacht. Die Geschichte zeigt, daß das in die Theologie übernommene platonische Denken selbst tiefgreifende Veränderungen erfahren hat, besonders was Begriffe wie Unsterblichkeit der Seele, Vergöttlichung des Menschen und Ursprung des Bösen betrifft.

40. Besondere Erwähnung verdienen in diesem Christianisierungswerk des platonischen und neuplatonischen Denkens die Kappadokier, Dionysios Areopagita und vor allem der hl. Augustinus. Der große abendländische Gelehrte war mit verschiedenen philosophischen Schulen in Kontakt gekommen, doch hatten ihn alle enttäuscht. Als dann die Wahrheit des christlichen Glaubens in sein Blickfeld trat, besaß er die Kraft, jene radikale Bekehrung zu vollziehen, zu welcher ihn die von ihm vorher wiederholt aufgesuchten Philosophen nicht bringen konnten. Den Grund dafür erzählt er selbst: »Von jetzt an aber gab ich immerhin der katholischen Lehre den Vorzug; empfand ich doch, um wieviel bescheidener und ohne die geringste betrügerische Absicht hier befohlen wird zu glauben, was nicht bewiesen wird, gleichviel ob es zu beweisen wäre, aber nicht für jeden, oder überhaupt nicht bewiesen werden kann; während bei den anderen das Wissen in vermessener Weise versprochen und über die Glaubwilligkeit gelacht wird und nachher befohlen wird, daß man nur Erdichtetes, ja Abwegigstes glauben soll, das nie bewiesen werden kann«.(38) Denselben Platonikern, auf die man sich vorwiegend bezog, warf Augustinus vor, daß sie zwar das anzustrebende Ziel kannten, jedoch nichts von dem Weg wissen wollten, der dorthin führt: dem fleischgewordenen Wort.(39) Dem Bischof von Hippo gelang es, die erste große Synthese des philosophischen und theologischen Denkens zu erstellen, in die Strömungen des griechischen und lateinischen Denkens einflossen. Auch bei ihm wurde die große Einheit des Wissens, deren Ausgangspunkt und Grundlage das biblische Denken war, von der Gründlichkeit des spekulativen Denkens bestätigt und getragen. Die vom hl. Augustinus vollzogene Synthese sollte Jahrhunderte lang die höchste Form philosophischen und theologischen Denkens bleiben, die das Abendland gekannt hat. Gefestigt durch seine persönliche Lebensgeschichte und gestützt auf ein wunderbar heiligmäßiges Leben, war er auch in der Lage, in seine Werke vielfältige Gegebenheiten einzubringen, die durch den Rückgriff auf die Erfahrung künftige Entwicklungen mancher philosophischer Denkrichtungen anzeigten.

41. Die Kirchenväter des Ostens und des Abendlandes haben also in verschiedenen Formen Verbindung mit den philosophischen Schulen aufgenommen. Das heißt nicht, daß sie den Inhalt ihrer Botschaft mit den Systemen, auf die sie Bezug nahmen, identifiziert hätten. Die Frage Tertullians: »Was haben Athen und Jerusalem gemein? Was die Akademie und die Kirche?«(40) ist ein klares Anzeichen für das kritische Bewußtsein, mit dem sich die christlichen Denker von Anfang an mit dem Problem des Verhältnisses von Glaube und Philosophie auseinandersetzten; sie sahen es umfassend, in seinen positiven Aspekten ebenso wie in seinen Grenzen. Sie waren keine naiven Denker. Gerade weil sie den Inhalt des Glaubens intensiv lebten, vermochten sie zu den tiefgründigsten Formen spekulativen Denkens zu gelangen. Es ist daher ungerecht und oberflächlich, ihr Werk auf die bloße Umsetzung der Glaubensinhalte in philosophische Kategorien einzuengen. Sie haben weit mehr geleistet. Es gelang ihnen nämlich, das voll sichtbar werden zu lassen, was sich noch unausgesprochen und propädeutisch im Denken der großen antiken Philosophen andeutete.(41) Sie hatten, wie gesagt, die Aufgabe zu zeigen, wie die von den äußeren Fesseln befreite Vernunft aus der Sackgasse der Mythen herausfinden könnte, um sich der Transzendenz auf angemessenere Weise zu öffnen. Eine geläuterte und aufrichtige Vernunft war also imstande, sich auf die höchsten Ebenen der Reflexion zu erheben, und schuf damit eine solide Grundlage für die Wahrnehmung des Seins, der Transzendenz und des Absoluten.

Genau hierin liegt das von den Kirchenvätern vollbrachte Neue. Sie anerkannten voll die für das Absolute offene Vernunft und pflanzten ihr den aus der Offenbarung stammenden Reichtum ein. Zur Begegnung kam es nicht nur auf der Ebene von Kulturen, von denen die eine vielleicht dem Zauber der anderen verfallen war; sie geschah in den Herzen und war Begegnung zwischen dem Geschöpf und seinem Schöpfer. Die Vernunft konnte dadurch, daß sie über das Ziel, dem sie kraft ihrer Natur unbewußt zustrebte, hinausging, in der Person des fleischgewordenen Wortes zum höchsten Gut und zur höchsten Wahrheit gelangen. Die Kirchenväter scheuten sich jedoch nicht, gegenüber den Philosophien sowohl die gemeinsamen Elemente als auch die Verschiedenheiten anzuerkennen, die diese bezüglich der Offenbarung aufwiesen. Das Bewußtsein von den Übereinstimmungen trübte in ihnen nicht das Erkennen der Unterschiede.

42. In der scholastischen Theologie wird unter dem Anstoß der Interpretation des intellectus fidei durch Anselm von Canterbury die Rolle der philosophisch geschulten Vernunft noch gewichtiger. Für den heiligen Erzbischof von Canterbury steht der Vorrang des Glaubens nicht im Wettbewerb mit der Suche, wie sie der Vernunft eigen ist. Diese ist nämlich nicht dazu berufen, ein Urteil über die Glaubensinhalte zu formulieren; sie wäre, weil dafür ungeeignet, dazu auch gar nicht fähig. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, einen Sinn zu finden, Gründe zu entdecken, die es allen erlauben, zu einem gewissen Verständnis der Glaubensinhalte zu gelangen. Der hl. Anselm unterstreicht die Tatsache, daß sich der Verstand auf die Suche nach dem begeben muß, was er liebt: je mehr er liebt, um so mehr sehnt er sich nach Erkenntnis. Wer für die Wahrheit lebt, strebt nach einer Erkenntnisform, die immer mehr von Liebe zu dem entbrennt, was er erkennt, auch wenn er einräumen muß, noch nicht alles getan zu haben, was in seinem Verlangen gelegen wäre: »Ad te videndum factus sum; et nondum feci propter quod factus sum«.(42) Das Streben nach Wahrheit drängt also die Vernunft, immer weiterzugehen; ja, sie wird gleichsam überwältigt von der Feststellung, daß ihre Fähigkeit immer größer ist als das, was sie tatsächlich erreicht. An diesem Punkt jedoch vermag die Vernunft zu entdecken, wo die Vollendung ihres Weges liegt: »Denn ich meine, daß einer, der etwas Unbegreifliches erforscht, sich zufriedengeben sollte, mit Hilfe der vernünftigen Auseinandersetzung mit sehr hoher Gewißheit die Wirklichkeit zu erkennen, auch wenn er nicht imstande ist, mit dem Verstand bis zu ihrer Seinsweise durchzudringen [...]. Denn gibt es etwas so Unbegreifliches und Unaussprechbares wie das, was oberhalb von allem ist? Wenn also das, was man bislang über das höchste Wesen diskutiert hat, auf Grund notwendiger Argumente festgelegt worden ist, obwohl man mit dem Verstand nicht derart bis zu ihm durchzudringen vermag, daß man es auch mit Worten erklären könnte, gerät deshalb das Fundament seiner Gewißheit nicht im geringsten ins Wanken. Denn wenn eine vorgängige Überlegung vernunftgemäß begriffen hat, daß die Art, wie die oberste Weisheit weiß, was sie geschaffen hat [...] unbegreiflich ist (rationabiliter comprehendit incomprensibile esse), wer wird dann erklären können, wie sie selbst sich erkennt und sich nennt — sie, über die der Mensch nichts oder fast nichts wissen kann?«.(43)

Der grundlegende Einklang von philosophischer Erkenntnis und Erkenntnis des Glaubens wird noch einmal bekräftigt: der Glaube verlangt, daß sein Gegenstand mit Hilfe der Vernunft verstanden wird; die Vernunft gibt auf dem Höhepunkt ihrer Suche das, was der Glaube vorlegt, als notwendig zu.

Die bleibende Neuheit des Denkens des hl. Thomas von Aquin [43-44]

43. Ein ganz besonderer Platz auf diesem langen Weg gebührt dem hl. Thomas nicht nur wegen des Inhalts seiner Lehre, sondern auch wegen der Beziehung, die er im Dialog mit dem arabischen und jüdischen Denken seiner Zeit herstellen konnte. In einer Epoche, in der die christlichen Denker die Schätze der antiken, genauer der aristotelischen Philosophie wiederentdeckten, kam ihm das große Verdienst zu, daß er die Harmonie, die zwischen Vernunft und Glaube besteht, in den Vordergrund gerückt hat. Das Licht der Vernunft und das Licht des Glaubens kommen beide von Gott, lautete sein Argument; sie können daher einander nicht widersprechen.(44)

Noch grundlegender anerkennt Thomas, daß die Natur, die Gegenstand der Philosophie ist, zum Verstehen der göttlichen Offenbarung beitragen kann. Der Glaube fürchtet demnach die Vernunft nicht, sondern sucht sie und vertraut auf sie. Wie die Gnade die Natur voraussetzt und vollendet,(45) so setzt der Glaube die Vernunft voraus und vollendet sie. Vom Glauben erleuchtet, wird diese von der Gebrechlichkeit und den aus dem Ungehorsam der Sünde herrührenden Grenzen befreit und findet die nötige Kraft, um sich zur Erkenntnis des Geheimnisses vom dreieinigen Gott zu erheben. Der Doctor Angelicus hat, so nachdrücklich er auch den übernatürlichen Charakter des Glaubens unterstrich, den Wert seiner Vernunftgemäßheit nicht vergessen; ja, er vermochte in die Tiefe zu gehen und den Sinn dieser Vernunftgemäßheit näher zu erklären. Denn der Glaube ist eine Art »Denkübung«; die Vernunft nimmt sich durch ihre Zustimmung zu den Glaubensinhalten weder zurück noch erniedrigt sie sich; zu den Glaubensinhalten gelangt man in jedem Fall durch freie Entscheidung und das eigene Gewissen.(46)

Aus diesem Grund ist der hl. Thomas zu Recht von der Kirche immer als Lehrmeister des Denkens und Vorbild dafür hingestellt worden, wie Theologie richtig betrieben werden soll. Ich möchte in diesem Zusammenhang anführen, was mein Vorgänger, der Diener Gottes Papst Paul VI., anläßlich des siebenhundertsten Todestages des hl. Thomas geschrieben hat: »Thomas besaß zweifellos in höchstem Maße den Mut zur Wahrheit, die Freiheit des Geistes, wenn er an die neuen Probleme heranging, die intellektuelle Redlichkeit dessen, der die Verschmelzung des Christentums mit der weltlichen Philosophie ebenso wenig gelten läßt wie deren apriorische Ablehnung. Er ging deshalb in die Geschichte des christlichen Denkens als ein Pionier auf dem neuen Weg der Philosophie und der universalen Kultur ein. Der zentrale, ja gleichsam Kernpunkt der Lösung, die er mit seinem genialen prophetischen Scharfsinn für das Problem der neuen Gegenüberstellung von Vernunft und Glaube fand, war die Versöhnung zwischen der säkularen Diesseitigkeit der Welt und der Radikalität des Evangeliums; damit entzog er sich der widernatürlichen Tendenz zur Leugnung der Welt und ihrer Werte, ohne allerdings die höchsten und unbeugsamen Ansprüche der übernatürlichen Ordnung zu vernachlässigen«.(47)

44. Zu den großen Einsichten des hl. Thomas gehört auch jene bezüglich der Rolle, die der Heilige Geist dabei spielt, menschliches Wissen zu Weisheit reifen zu lassen. Bereits auf den ersten Seiten seiner Summa Theologiae(48) zeigte der Aquinat den Vorrang jener Weisheit auf, die Gabe des Heiligen Geistes ist und in die Erkenntnis der göttlichen Wirklichkeiten einführt. Seine Theologie ermöglicht es, die Eigenart der Weisheit in ihrer engen Beziehung zum Glauben und zur Gotteserkenntnis zu begreifen. Die Weisheit erkennt auf Grund ihrer natürlichen Verwandtschaft (Konnaturalität), sie setzt den Glauben voraus und formuliert schließlich ihr richtiges Urteil von der Wahrheit des Glaubens her: »Die Weisheit, die zu den Gaben des Heiligen Geistes zählt, unterscheidet sich von jener (Klugheit), die zu den Tugenden des Verstandes gehört. Diese letztere nämlich erwirbt man sich durch das Studium: jene hingegen “kommt von oben”, wie es der hl. Jakobus ausdrückt. So ist sie auch verschieden vom Glauben. Denn der Glaube nimmt die göttliche Wahrheit so an, wie sie ist: Eigenart der Gabe der Weisheit ist es hingegen, gemäß der göttlichen Wahrheit zu urteilen«.(49)

Der Vorrang, den er dieser Weisheit zuerkennt, läßt den Doctor Angelicus freilich nicht das Vorhandensein zweier anderer ergänzender Weisheitsformen vergessen: die philosophische, die sich auf das Vermögen des Verstandes stützt, innerhalb der ihm angeborenen Grenzen die Wirklichkeit zu erforschen; und die theologische, die auf der Offenbarung beruht und die Glaubensinhalte prüft, wodurch sie zum Geheimnis Gottes selbst vorstößt.

Zutiefst davon überzeugt, daß »omne verum a quocumque dicatur a Spiritu Sancto est«,(50) liebte der hl. Thomas in uneigennütziger Weise die Wahrheit. Er suchte sie überall, wo sie sich zeigen könnte, und machte ihre Universalität höchst einsichtig. Das Lehramt der Kirche hat in ihm die Leidenschaft für die Wahrheit erkannt und gewürdigt; sein Denken erreichte, eben weil es immer im Horizont der universalen, objektiven und transzendenten Wahrheit blieb, »Gipfel, wie sie die menschliche Intelligenz niemals zu denken vermocht hätte«.(51) Er darf also mit Recht »Apostel der Wahrheit«(52) genannt werden. Weil er die Wahrheit vorbehaltlos anstrebte, konnte er in seinem Realismus deren Objektivität anerkennen. Seine Philosophie ist wahrhaftig die Philosophie des Seins und nicht des bloßen Scheins.

Das Drama der Trennung zwischen Glaube und Vernunft [45-48]

45. Mit der Errichtung der ersten Universitäten sah sich die Theologie mit anderen Formen des Forschens und des wissenschaftlichen Wissens unmittelbarer konfrontiert. Der hl. Albertus Magnus und der hl. Thomas waren die ersten, die, obwohl sie an einer organischen Verbindung zwischen Theologie und Philosophie festhielten, der Philosophie und den Wissenschaften die nötige Autonomie zuerkannten, die diese brauchen, um sich den jeweiligen Forschungsgebieten erfolgreich widmen zu können. Vom späten Mittelalter an verwandelte sich jedoch die legitime Unterscheidung zwischen den beiden Wissensformen nach und nach in eine unselige Trennung. Infolge des Vorherrschens eines übertriebenen rationalistischen Geistes bei einigen Denkern wurden die Denkpositionen radikaler, bis man tatsächlich bei einer getrennten und gegenüber den Glaubensinhalten absolut autonomen Philosophie anlangte. Zu den Folgen dieser Trennung gehörte unter anderen auch ein wachsender Argwohn gegenüber der Vernunft. Einige begannen, sich zu einem allgemeinen, skeptischen und agnostischen Mißtrauen zu bekennen, entweder um dem Glauben mehr Raum vorzubehalten oder aber um jede nur mögliche seiner Beziehungen zur Vernunft in Mißkredit zu bringen.

Was das patristische und mittelalterliche Denken als tiefe Einheit, die eine zu den höchsten Formen spekulativen Denkens befähigende Erkenntnis hervorbrachte, ersonnen und verwirklicht hatte, wurde letztendlich von jenen Systemen zerstört, die für eine vom Glauben getrennte und zu ihm alternative Vernunfterkenntnis eintraten.

46. Die auffälligsten Radikalisierungen sind bekannt und vor allem in der Geschichte des Abendlandes deutlich sichtbar. Das moderne philosophische Denken hat sich, so kann man ohne Übertreibung sagen, zu einem gehörigen Teil in seiner allmählichen Abwendung von der christlichen Offenbarung entwickelt, bis es schließlich zu klaren Gegenpositionen gelangte. Im vorigen Jahrhundert hat diese Bewegung ihren Höhepunkt erreicht. Einige Vertreter des Idealismus haben auf verschiedenste Weise versucht, den Glauben und seine Inhalte, ja sogar das Geheimnis vom Tod und Auferstehung Jesu Christi, in rational faßbare dialektische Strukturen umzuwandeln. Diesem Denken stellten sich verschiedene, philosophisch aufbereitete Formen eines atheistischen Humanismus entgegen, die den Glauben als für die Entwicklung der vollen Vernünftigkeit schädlich und entfremdend darstellten. Sie scheuten sich nicht, sich als neue Religionen zu präsentieren; damit war die Ausgangsbasis für Zielsetzungen geschaffen, die sich auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene zu totalitären Systemen und damit zu einem Trauma für die Menschheit auswuchsen.

Im Bereich der wissenschaftlichen Forschung setzte sich eine positivistische Denkweise durch, die sich nicht nur von jedem Bezug zur christlichen Weltanschauung entfernt, sondern auch und vor allem jeden Hinweis auf die metaphysische und moralische Sicht fallen gelassen hatte. Die Folge davon ist, daß bestimmte Wissenschaftler, die keinen sittlichen Anhaltspunkt haben, Gefahr laufen, daß nicht mehr der Mensch und die Ganzheit seines Lebens im Mittelpunkt ihres Interesses steht. Mehr noch: einige von ihnen scheinen in Kenntnis der dem technologischen Fortschritt innewohnenden Möglichkeiten außer der Logik des Marktes der Versuchung zu einer demiurgischen Macht über die Natur und über den Menschen selbst nachzugeben.

Als Folge der Krise des Rationalismus hat sich schließlich der Nihilismus herausgebildet. Er schafft es, als Philosophie vom Nichts auf unsere Zeitgenossen seinen Zauber auszuüben. Seine Anhänger stellen Theorien darüber auf, daß die Suche in sich selbst ihr Ende hat, ohne irgendeine Hoffnung oder Möglichkeit, das Ziel der Wahrheit je zu erreichen. Nach nihilistischer Auslegung ist das Dasein nur eine Gelegenheit für Eindrücke und Erfahrungen, in denen das Flüchtige den Vorrang hat. Der Nihilismus steht am Anfang jener verbreiteten Geisteshaltung, wonach man keine endgültige Verpflichtung mehr übernehmen muß, weil ohnehin alles vergänglich und vorläufig ist.

47. Andererseits darf man nicht vergessen, daß sich in der modernen Kultur die Rolle der Philosophie selbst verändert hat. Von Weisheit und universalem Wissen ist sie allmählich auf eines unter vielen Gebieten menschlichen Wissens zusammengeschrumpft; sie ist sogar in gewisser Hinsicht in eine völlige Nebenrolle abgedrängt worden. Inzwischen haben sich andere Formen von Vernünftigkeit mit immer größerem Gewicht durchgesetzt und dabei die Nebensächlichkeit des philosophischen Wissens hervorgehoben. Statt auf die Anschauung der Wahrheit und die Suche nach dem letzten Ziel und dem Sinn des Lebens sind diese Formen der Vernünftigkeit als »instrumentale Vernunft« darauf ausgerichtet, utilitaristischen Zielen, dem Genuß oder der Macht zu dienen. Zumindest können diese Formen darauf ausgerichtet werden.

Wie gefährlich es ist, diesen Weg zu verabsolutieren, darauf habe ich bereits in meiner ersten Enzyklika hingewiesen, wo ich schrieb: »Der Mensch von heute scheint immer wieder von dem bedroht zu sein, was er selbst produziert, das heißt vom Ergebnis der Arbeit seines Verstandes und seiner Willensentscheidung. Die Früchte dieser vielgestaltigen Aktivität des Menschen sind nicht nur Gegenstand von 'Entfremdung', weil sie demjenigen, der sie hervorgebracht hat, einfachhin genommen werden; allzu oft und nicht selten unvorhersehbar wenden sich diese Früchte, wenigstens teilweise, in einer konsequenten Folge von Wirkungen indirekt gegen den Menschen selbst. So sind sie tatsächlich gegen ihn gerichtet oder können es jederzeit sein. Hieraus scheint das wichtigste Kapitel des Dramas der heutigen menschlichen Existenz in seiner breitesten und universellen Dimension zu bestehen. Der Mensch lebt darum immer mehr in Angst. Er befürchtet, daß seine Produkte, natürlich nicht alle und auch nicht die Mehrzahl, aber doch einige und gerade jene, die ein beträchtliches Maß an Genialität und schöpferischer Kraft enthalten, sich in radikaler Weise gegen ihn selbst kehren könnten«.(53)

Im Gefolge dieser kulturellen Veränderungen haben es einige Philosophen aufgegeben, die Wahrheit um ihrer selbst willen zu suchen, und als ihr einziges Ziel die Erreichung der subjektiven Gewißheit oder der praktischen Nützlichkeit übernommen. Als Konsequenz davon kam es zur Trübung der wahren Würde der Vernunft, der nicht mehr die Möglichkeit gegeben wurde, das Wahre zu erkennen und nach dem Absoluten zu forschen.

48. Aus diesem letzten Abschnitt der Philosophiegeschichte ergibt sich also die Feststellung einer fortschreitenden Trennung zwischen Glaube und philosophischer Vernunft. Es stimmt zwar, daß sich bei aufmerksamer Beobachtung auch in der philosophischen Reflexion derer, die zur Vergrößerung des Abstandes zwischen Glaube und Vernunft beigetragen haben, mitunter wertvolle Denkansätze erkennen lassen, die, wenn sie mit redlichem Geist und Herzen vertieft und entwickelt werden, helfen können, den Weg der Wahrheit zu entdecken. Zu finden sind diese Denkansätze zum Beispiel in den gründlichen Analysen über Wahrnehmung und Erfahrung, über die Imagination und das Unbewußte, über Persönlichkeit und Intersubjektivität, über Freiheit und Werte, über Zeit und Geschichte; auch das Thema Tod kann für jeden Denker eine ernste Aufforderung sein, in sich den echten Sinn seines Daseins zu suchen. Das hindert jedoch nicht, daß das derzeitige Verhältnis von Glaube und Vernunft ein sorgfältiges Bemühen um Unterscheidung erfordert, weil sowohl die Vernunft als auch der Glaube verarmt und beide gegenüber dem je anderen schwach geworden sind. Nachdem die Vernunft ohne den Beitrag der Offenbarung geblieben war, hat sie Seitenwege eingeschlagen, die die Gefahr mit sich bringen, daß sie ihr letztes Ziel aus dem Blick verliert. Der Glaube, dem die Vernunft fehlt, hat Empfindung und Erfahrung betont und steht damit in Gefahr, kein universales Angebot mehr zu sein. Es ist illusorisch zu meinen, angesichts einer schwachen Vernunft besitze der Glaube größere Überzeugungskraft; im Gegenteil, er gerät in die ernsthafte Gefahr, auf Mythos bzw. Aberglauben verkürzt zu werden. In demselben Maß wird sich eine Vernunft, die keinen reifen Glauben vor sich hat, niemals veranlaßt sehen, den Blick auf die Neuheit und Radikalität des Seins zu richten.

Nicht unangebracht mag deshalb mein entschlossener und eindringlicher Aufruf erscheinen, daß Glaube und Philosophie die tiefe Einheit wiedererlangen sollen, die sie dazu befähigt, unter gegenseitiger Achtung der Autonomie des anderen ihrem eigenen Wesen treu zu sein. Der parresia (Freimütigkeit) des Glaubens muß die Kühnheit der Vernunft entsprechen.