Fides et Ratio: Kapitel V
Einleitung
Kapitel I: Die Offenbarung der Weisheit Gottes
Kapitel II: Credo ut intellegam
Kapitel III: Intellego ut credam
Kapitel IV: Das Verhältnis von Glaube und Vernunft
Kapitel V: Die Wortmeldungen des Lehramtes im philosophischen Bereich
Kapitel VI: Die Wechselwirkung zwischen Theologie und Philosophie
Kapitel VII: Aktuelle Forderungen und Aufgaben
Schluss
Anmerkungen


KAPITEL V

DIE WORTMELDUNGEN DES LEHRAMTES
IM PHILOSOPHISCHEN BEREICH

Das Urteilsvermögen des Lehramtes als Dienst an der Wahrheit [49-56]

49. Die Kirche legt weder eine eigene Philosophie vor noch gibt sie irgendeiner besonderen Philosophie auf Kosten der anderen den Vorzug.(54) Der tiefere Grund für diese Zurückhaltung liegt darin, daß die Philosophie auch dann, wenn sie mit der Theologie in Beziehung tritt, nach ihren eigenen Regeln und Methoden vorgehen muß; andernfalls gäbe es keine Gewähr dafür, daß sie auf die Wahrheit ausgerichtet bleibt und mit einem von der Vernunft her überprüfbaren Prozeß nach ihr strebt. Eine Philosophie, die nicht im Lichte der Vernunft nach eigenen Prinzipien und den für sie spezifischen Methoden vorginge, wäre wenig hilfreich. Im Grunde genommen ist der Ursprung der Autonomie, deren sich die Philosophie erfreut, daran zu erkennen, daß die Vernunft ihrem Wesen nach auf die Wahrheit hin orientiert und zudem in sich selbst mit den für deren Erreichung notwendigen Mitteln ausgestattet ist. Eine Philosophie, die sich dieser ihrer »Verfassung« bewußt ist, muß auch die Forderungen und Einsichten der geoffenbarten Wahrheit respektieren.

Die Geschichte hat jedoch gezeigt, auf welche Abwege und in welche Verirrungen vor allem das moderne philosophische Denken nicht selten geraten ist. Es ist weder Aufgabe noch Zuständigkeit des Lehramtes einzugreifen, um die Lücke eines fehlenden philosophischen Diskurses auszufüllen. Seine Pflicht ist es hingegen, klar und entschieden zu reagieren, wenn fragwürdige philosophische Auffassungen das richtige Verständnis des Geoffenbarten bedrohen und wenn falsche und parteiische Theorien verbreitet werden, die dadurch, daß sie die Schlichtheit und Reinheit des Glaubens des Gottesvolkes verwirren, schwerwiegende Irrtümer hervorrufen.

50. Das kirchliche Lehramt kann und soll daher im Lichte des Glaubens autoritativ seine kritische Unterscheidungskraft gegenüber den Philosophien und Auffassungen ausüben, die nicht mit der christlichen Lehre übereinstimmen.(55) Aufgabe des Lehramtes ist es vor allem anzugeben, welche philosophischen Voraussetzungen und Schlußfolgerungen mit der geoffenbarten Wahrheit unvereinbar wären, und zugleich die Forderungen zu formulieren, die der Philosophie unter dem Gesichtspunkt des Glaubens auferlegt werden. Im Laufe der Entwicklung des philosophischen Wissens sind zudem verschiedene Denkschulen entstanden. Auch dieser Pluralismus stellt das Lehramt vor die Verantwortung, sein Urteil über die Vereinbarkeit bzw. Unvereinbarkeit der Grundgedanken, auf die sich diese Schulen stützen, mit den Ansprüchen des Wortes Gottes und der theologischen Reflexion auszusprechen.

Die Kirche hat die Pflicht anzuzeigen, was sich in einem philosophischen System als unvereinbar mit ihrem Glauben herausstellen kann. Denn viele philosophische Inhalte, wie die Themen Gott, Mensch, seine Freiheit und sein sittliches Handeln, rufen die Kirche unmittelbar auf den Plan, weil sie an die von ihr gehütete geoffenbarte Wahrheit rühren. Wir Bischöfe haben, wenn wir diese Unterscheidung anwenden, die Aufgabe, »Zeugen der Wahrheit« zu sein bei der Ausübung eines demütigen, aber unermüdlichen Dienstes, den jeder Philosoph anerkennen sollte, zum Vorteil der recta ratio, das heißt der Vernunft, die über das Wahre in rechter Weise nachdenkt.

51. Diese Unterscheidung darf allerdings nicht in erster Linie negativ verstanden werden, so als läge es in der Absicht des Lehramtes, jede mögliche Vermittlung auszuschließen oder einzuschränken. Im Gegenteil, seine Interventionen wollen vor allem bezwecken, das philosophische Denken anzuregen, zu fördern und ihm Mut zu machen. Die Philosophen verstehen im übrigen als erste die Forderung nach Selbstkritik, nach Korrektur eventueller Irrtümer und die Notwendigkeit, die allzu engen Grenzen zu überschreiten, innerhalb der sich ihr Denken vollzieht. In besonderer Weise gilt es zu beachten, daß die Wahrheit nur eine ist, obwohl ihre Äußerungen den Stempel der Geschichte tragen und zudem das Werk einer von der Sünde verletzten und geschwächten menschlichen Vernunft sind. Daraus ergibt sich, daß keine historische Form der Philosophie legitim beanspruchen kann, die Gesamtwahrheit zu umfassen; dies gilt auch für die vollständige Erklärung des Menschen, der Welt und der Beziehung des Menschen zu Gott.

In der heutigen Zeit ist angesichts der Vermehrung der oft äußerst detailliert konzipierten philosophischen Systeme, Methoden, Begriffe und Argumente eine kritische Unterscheidung im Lichte des Glaubens mit um so größerer Dringlichkeit angesagt: eine keineswegs einfache Unterscheidung, denn wenn schon das Erkennen der angeborenen und unveräußerlichen Fähigkeiten der Vernunft mit ihren konstitutiven, historischen Grenzen mühsam ist, so kann es sich manchmal als noch problematischer erweisen, in den einzelnen philosophischen Vorgaben das, was sie vom Glaubensstandpunkt aus an Gültigem und Fruchtbarem bieten, von dem zu unterscheiden, was sich bei ihnen als irrig oder gefährlich herausstellt. Die Kirche weiß freilich, daß die »Schätze der Weisheit und Erkenntnis« in Christus verborgen sind (vgl. Kol 2, 3); deshalb greift sie ein und spornt die philosophische Reflexion an, sich nicht den Weg zu versperren, der zum Erkennen des Geheimnisses führt.

52. Das Lehramt der Kirche hat nicht erst in jüngster Zeit eingegriffen, um seine Ansicht gegenüber bestimmten philosophischen Lehren zu bekunden. Als Beispiele im Laufe der Jahrhunderte seien hier erwähnt: die Lehräußerungen gegen die Theorien, welche die Präexistenz der Seelen vertraten,(56) sowie gegen verschiedene Formen von Götzendienst und abergläubischer Esoterik, die in astrologischen Auffassungen enthalten sind;(57) nicht zu vergessen die systematischeren Texte gegen einige, mit dem christlichen Glauben unvereinbare Auffassungen des lateinischen Averroismus.(58)

Wenn sich das Lehramt seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts häufiger zu Wort gemeldet hat, so deshalb, weil in jener Zeit nicht wenige Katholiken es als ihre Aufgabe ansahen, den verschiedenen Strömungen des modernen Denkens ihre eigene Philosophie entgegenzusetzen. Hier wurde es für das Lehramt der Kirche zur Verpflichtung, darüber zu wachen, daß diese Philosophien nicht ihrerseits in irrige und negative Formen abglitten. So ergingen gleichermaßen Zensuren: einerseits gegen den Fideismus(59) und den radikalen Traditionalismus(60) wegen ihres Mißtrauens gegenüber den natürlichen Fähigkeiten der Vernunft; andererseits gegen den Rationalismus(61) und den Ontologismus,(62) weil sie der natürlichen Vernunft etwas zuschrieben, was nur im Lichte des Glaubens erkennbar ist. Die positiven Inhalte dieser Debatte wurden in der dogmatischen Konstitution Dei Filius formalisiert, mit der zum ersten Mal ein ökumenisches Konzil, nämlich das I. Vatikanum, zu den Beziehungen zwischen Vernunft und Glaube in feierlicher Form eingriff. Die in jenem Text enthaltene Lehre charakterisierte einprägsam und auf positive Art und Weise die philosophische Forschung vieler Gläubiger und stellt noch heute einen normativen Bezugspunkt für eine einwandfreie und konsequente christliche Reflexion in diesem besonderen Bereich dar.

53. Mehr als mit einzelnen philosophischen Auffassungen haben sich die Urteile des Lehramtes mit der Notwendigkeit der Vernunfterkenntnis und daher letzten Endes der philosophischen Erkenntnis für die Glaubenseinsicht befaßt. Das I. Vatikanische Konzil, das die Lehren, die das ordentliche Lehramt ständig für die Gläubigen aufgestellt hatte, in feierlicher Form zusammenfaßte und neu bestätigte, hob hervor, wie untrennbar und zugleich voneinander unabhängig natürliche Gotteserkenntnis und Offenbarung, Vernunft und Glaube seien. Das Konzil ging von der durch die Offenbarung selbst vorausgesetzten Grundforderung nach der natürlichen Erkennbarkeit der Existenz Gottes, dem Ursprung und Ziel aller Dinge,(63) aus und schloß mit der bereits zitierten feierlichen Beteuerung: »Es gibt zwei Erkenntnisordnungen, die nicht nur im Prinzip, sondern auch im Gegenstand verschieden sind«.(64) Es mußte also gegenüber jeder Art von Rationalismus der Unterschied der Glaubensgeheimnisse von den philosophischen Entdeckungen und die Transzendenz und Priorität jener gegenüber diesen bekräftigt werden; andererseits war es notwendig, den fideistischen Versuchungen gegenüber die Einheit der Wahrheit und somit auch den positiven Beitrag zu betonen, den die Vernunfterkenntnis für die Glaubenserkenntnis leisten kann und soll: »Aber auch wenn der Glaube über der Vernunft steht, so kann es dennoch niemals eine wahre Unstimmigkeit zwischen Glaube und Vernunft geben: denn derselbe Gott, der die Geheimnisse offenbart und den Glauben mitteilt, hat in den menschlichen Geist das Licht der Vernunft gelegt; Gott aber kann sich nicht selbst verleugnen, noch (kann) jemals Wahres Wahrem widersprechen«.(65)

54. Auch in unserem Jahrhundert ist das Lehramt wiederholt auf das Thema zurückgekommen und hat vor der rationalistischen Versuchung gewarnt. In dieses Szenarium sind die Interventionen Papst Pius' X. einzuordnen, der feststellte, daß dem Modernismus philosophische Anschauungen phänomenalistischer, agnostischer und immanentistischer Tendenz zugrunde lagen.(66) Auch die Bedeutung, die der katholischen Ablehnung der marxistischen Philosophie und des atheistischen Kommunismus zukam, darf nicht vergessen werden.(67)

Sodann erhob Papst Pius XII. seine Stimme, als er in der Enzyklika Humani generis vor irrigen Erklärungen im Zusammenhang mit den Auffassungen von Evolutionismus, Existentialismus und Historizismus warnte. Er stellte klar, daß diese Auffassungen nicht von Theologen erarbeitet und vorgelegt worden sind, haben sie doch ihren Ursprung »außerhalb des Schafstalls Christi«;(68) er fügte allerdings hinzu, daß derartige Abirrungen nicht einfach verworfen, sondern kritisch untersucht werden sollten: »Nun sollen aber die katholischen Theologen und Philosophen, denen die schwere Aufgabe obliegt, die göttliche und menschliche Wahrheit zu schützen und sie den Herzen der Menschen einzupflanzen, diese mehr oder weniger vom rechten Weg abirrenden Auffassungen weder ignorieren noch unbeachtet lassen. Ja, sie sollen diese Auffassungen sogar gründlich kennen, sowohl weil Krankheiten nicht angemessen geheilt werden können, wenn sie nicht vorher richtig erkannt wurden, als auch, weil manchmal selbst in falschen Ansichten ein Körnchen Wahrheit verborgen liegt, als auch schließlich, weil diese den Geist herausfordern, bestimmte Wahrheiten, sowohl philosophische als auch theologische, genauer zu durchforschen und zu untersuchen«.(69)

Schließlich mußte auch die Kongregation für die Glaubenslehre in Erfüllung ihrer besonderen Aufgabe im Dienst des universalen Lehramtes des Papstes(70) eingreifen, um nachdrücklich auf die Gefahr hinzuweisen, die eine unkritische Übernahme der aus dem Marxismus stammenden Auffassungen und Methoden durch einige Befreiungstheologen mit sich bringt.(71)

Das Lehramt hat also in der Vergangenheit wiederholt und unter verschiedenen Bedingungen die kritische Unterscheidung in bezug auf das Gebiet der Philosophie vorgenommen. Alles, was meine ehrwürdigen Vorgänger dazu geleistet haben, stellt einen wertvollen Beitrag dar, der nicht in Vergessenheit geraten darf.

55. Wenn wir uns die heutige Situation anschauen, sehen wir, daß die Probleme von einst wiederkehren, wobei sie aber neue Eigenheiten aufweisen. Es handelt sich nicht mehr nur um Fragen, die einzelne Personen oder Gruppen betreffen, sondern um Überzeugungen, die in der Gesellschaft so verbreitet sind, daß sie gewissermaßen zu einer gemeinsamen Denkweise werden. Das gilt zum Beispiel für das radikale Mißtrauen gegen die Vernunft, das die jüngsten Entwicklungen vieler philosophischer Studien an den Tag legen. Von mehreren Seiten war diesbezüglich vom »Ende der Metaphysik« zu hören: man will, daß sich die Philosophie mit bescheideneren Aufgaben begnügt, sich also nur der Erklärung des Tatsächlichen oder der Erforschung nur bestimmter Gebiete des menschlichen Wissens oder seiner Strukturen widmet.

In der Theologie selbst tauchen wieder die Versuchungen von einst auf. In einigen zeitgenössischen Theologien bahnt sich zum Beispiel neuerdings ein gewisser Rationalismus seinen Weg, vor allem wenn angeblich philosophisch begründete Aussagen als normativ für die theologische Forschung übernommen werden. Das geschieht vor allem dann, wenn sich der Theologe aus Mangel an philosophischer Fachkenntnis auf unkritische Weise von Aussagen beeinflussen läßt, die zwar in die gängige Sprache und Kultur Eingang gefunden haben, aber ohne ausreichende rationale Grundlage sind.(72)

Es fehlt auch nicht an gefährlichen Rückfällen in den Fideismus, der die Bedeutung der Vernunfterkenntnis und der philosophischen Debatte für die Glaubenseinsicht, ja für die Möglichkeit, überhaupt an Gott zu glauben, nicht anerkennt. Ein heutzutage verbreiteter Ausdruck dieser fideistischen Tendenz ist der »Biblizismus«, dessen Bestreben dahin geht, aus der Lesung der Heiligen Schrift bzw. ihrer Auslegung den einzigen glaubhaften Bezugspunkt zu machen. So kommt es, daß man das Wort Gottes einzig und allein mit der Heiligen Schrift identifiziert und auf diese Weise die Lehre der Kirche untergräbt, die das II. Vatikanische Konzil ausdrücklich bestätigt hat. Nachdem die Konstitution Dei Verbum darauf hingewiesen hat, daß das Wort Gottes sowohl in den heiligen Texten als auch in der Überlieferung gegenwärtig ist,(73) führt sie mit Nachdruck aus: »Die Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift bilden den einen der Kirche überlassenen heiligen Schatz des Wortes Gottes. Voller Anhänglichkeit an ihn verharrt das ganze heilige Volk, mit seinen Hirten vereint, ständig in der Lehre der Apostel«.(74) Die Heilige Schrift ist daher nicht der einzige Anhaltspunkt für die Kirche. Denn die »höchste Richtschnur ihres Glaubens«(75) kommt ihr aus der Einheit zwischen der Heiligen Überlieferung, der Heiligen Schrift und dem Lehramt der Kirche zu, die der Heilige Geist so geknüpft hat, daß keine der drei ohne die anderen bestehen kann.(76)

Nicht unterschätzt werden darf zudem die Gefahr, die der Absicht innewohnt, die Wahrheit der Heiligen Schrift von der Anwendung einer einzigen Methode abzuleiten, und dabei die Notwendigkeit einer Exegese im weiteren Sinn außer acht läßt, die es erlaubt, zusammen mit der ganzen Kirche zum vollen Sinn der Texte zu gelangen. Alle, die sich dem Studium der Heiligen Schriften widmen, müssen stets berücksichtigen, daß auch den verschiedenen hermeneutischen Methoden eine philosophische Auffassung zugrunde liegt: sie gilt es vor ihrer Anwendung auf die heiligen Texte eingehend zu prüfen.

Weitere Formen eines latenten Fideismus sind an dem geringen Ansehen, das der spekulativen Theologie entgegengebracht wird, ebenso erkennbar wie auch an der Geringschätzung für die klassische Philosophie, aus deren Begriffspotential sowohl das Glaubensverständnis als auch die dogmatischen Formulierungen ihre Begriffe geschöpft haben. Papst Pius XII. seligen Andenkens hat vor solcher Vernachlässigung der philosophischen Tradition und vor dem Aufgeben der überlieferten Terminologien gewarnt.(77)

56. Schließlich beobachtet man ein verbreitetes Mißtrauen gegen die umfassenden und absoluten Aussagen, vor allem von seiten derer, die meinen, die Wahrheit sei das Ergebnis des Konsenses und nicht der Anpassung des Verstandes an die objektive Wirklichkeit. Es ist sicherlich verständlich, daß es in einer in viele Fachbereiche unterteilten Welt schwierig wird, jenen vollständigen und letzten Sinn des Lebens zu erkennen, nach dem die Philosophie traditionell gesucht hat. Ich kann dennoch nicht umhin, im Lichte des Glaubens, der in Jesus Christus diesen letzten Sinn erkennt, die christlichen wie auch nichtchristlichen Philosophen zu ermutigen, in die Fähigkeiten der menschlichen Vernunft zu vertrauen und sich bei ihrem Philosophieren nicht zu bescheidene Ziele zu setzen. Die Lehre der Geschichte dieses nunmehr zu Ende gehenden Jahrtausends zeugt davon, daß das der Weg ist, der eingeschlagen werden soll: Die Leidenschaft für die letzte Wahrheit und der Wunsch, sie zu suchen, verbunden mit dem Mut zur Entdeckung neuer Wege, dürfen nicht verloren gehen! Es ist der Glaube, der die Vernunft dazu herausfordert, aus jedweder Isolation herauszutreten und für alles, was schön, gut und wahr ist, etwas zu riskieren. So wird der Glaube zum überzeugten und überzeugenden Anwalt der Vernunft.

Das Interesse der Kirche für die Philosophie [57-63]

57. Das Lehramt hat sich freilich nicht darauf beschränkt, nur die Irrtümer und Abweichungen der philosophischen Lehren aufzudecken. Mit derselben Aufmerksamkeit hat es die Grundprinzipien für eine echte Erneuerung des philosophischen Denkens unterstrichen und auch konkret einzuschlagende Wege aufgezeigt. In diesem Sinn vollzog Papst Leo XIII. mit seiner Enzyklika Æterni Patris einen Schritt von wahrhaft historischer Tragweite für das Leben der Kirche. Jener Text war bis zum heutigen Tag das einzige päpstliche Dokument auf solcher Ebene, das ausschließlich der Philosophie gewidmet war. Der große Papst griff die Lehre des I. Vatikanischen Konzils über das Verhältnis von Glaube und Vernunft auf und entwickelte sie weiter, indem er zeigte, daß das philosophische Denken ein grundlegender Beitrag zum Glauben und zur theologischen Wissenschaft ist.(78) Nach über einem Jahrhundert haben viele in jenem Text enthaltene Hinweise sowohl unter praktischem wie unter pädagogischem Gesichtspunkt nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt; das gilt zuallererst für die Bedeutung in bezug auf den unvergleichlichen Wert der Philosophie des hl. Thomas. Das Denken des Doctor Angelicus neu vorzulegen, erschien Papst Leo XIII. als der beste Weg, mit der Philosophie wieder so umzugehen, daß sie mit den Ansprüchen des Glaubens übereinstimmt. Der Papst schrieb: »Im selben Augenblick, in dem er (der hl. Thomas), wie es sich gehört, den Glauben vollkommen von der Vernunft unterscheidet, vereint er die beiden durch Bande wechselseitiger Freundschaft: er sichert jeder von ihnen ihre Rechte zu und schützt ihre Würde«.(79)

58. Die glücklichen Folgen, die jene päpstliche Aufforderung nach sich zog, sind bekannt. Die Forschungen über das Denken des hl. Thomas und anderer scholastischer Autoren erfuhren einen neuen Aufschwung. Starken Auftrieb erhielt die historische Forschung mit der Wiederentdeckung der bis dahin weithin unbekannten Schätze des mittelalterlichen Denkens zur Folge; außerdem entstanden neue thomistische Schulen. Durch die Anwendung der historischen Methode machte die Kenntnis des Werkes des hl. Thomas große Fortschritte; zahlreiche Gelehrte brachten mutig die thomistische Überlieferung in die Diskussionen über die damaligen philosophischen und theologischen Probleme ein. Die einflußreichsten katholischen Theologen dieses Jahrhunderts, deren Denken und Forschen das II. Vatikanische Konzil viel zu verdanken hat, sind Kinder dieser Erneuerung der thomistischen Philosophie. So stand der Kirche im Laufe des 20. Jahrhunderts eine starke Gruppe von Denkern zur Verfügung, die in der Schule des Doctor Angelicus herangebildet worden waren.

59. Die thomistische und neothomistische Erneuerung war allerdings nicht das einzige Zeichen einer Wiederaufnahme des philosophischen Denkens in die christlich geprägte Kultur. Schon vor der Aufforderung Papst Leos und parallel zu ihr waren zahlreiche katholische Philosophen aufgetreten, die an jüngere Denkströmungen angeknüpft und dabei nach ihrer eigenen Methode philosophische Werke von großem Einfluß und bleibendem Wert hervorgebracht hatten. Darunter befanden sich einige, die Synthesen von solchem Profil entwickelten, daß sie den großen Systemen des Idealismus in nichts nachstanden; wieder andere legten die erkenntnistheoretischen Grundlagen für eine neue Behandlung des Glaubens im Lichte eines erneuerten Verständnisses des moralischen Gewissens; noch andere schufen eine Philosophie, die, ausgehend von der Analyse des Innerweltlichen, den Weg zum Transzendenten eröffnete; und schließlich gab es auch jene, welche die Forderungen des Glaubens im Horizont der phänomenologischen Methode anzuwenden versuchten. Von verschiedenen Perspektiven her hat man also fortwährend Formen philosophischer Spekulation hervorgebracht, die die großartige Tradition christlichen Denkens in der Einheit von Glaube und Vernunft lebendig erhalten wollten.

60. Das II. Vatikanische Konzil legt seinerseits eine sehr reiche und fruchtbare Lehre in bezug auf die Philosophie vor. Ich kann besonders im Rahmen dieser Enzyklika nicht vergessen, daß ein ganzes Kapitel der Konstitution Gaudium et spes gleichsam eine Zusammenfassung biblischer Anthropologie und damit auch Inspirationsquelle für die Philosophie darstellt. Auf jenen Seiten geht es um den Wert der nach dem Bild Gottes geschaffenen menschlichen Person, es werden ihre Würde und Überlegenheit über die übrige Schöpfung begründet und die transzendente Fähigkeit ihrer Vernunft aufgezeigt.(80) Auch das Problem des Atheismus kommt in Gaudium et spes in den Blick; dabei werden die Irrtümer jener philosophischen Anschauung, vor allem gegenüber der unveräußerlichen Würde der Person und ihrer Freiheit, genau begründet.(81) Tiefe philosophische Bedeutung besitzt gewiß auch die Formulierung, die den Höhepunkt jenes Abschnittes bildet. Ich habe sie in meiner Enzyklika Redemptor hominis aufgegriffen; sie gehört zu den festen Bezugspunkten meines Lehrens: »Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf. Denn Adam, der erste Mensch, war das Vorausbild des zukünftigen, nämlich Christi des Herrn. Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung«.(82)

Das Konzil hat sich auch mit dem Studium der Philosophie befaßt, dem sich die Priesteramtskandidaten widmen sollen; es handelt sich um Empfehlungen, die sich allgemeiner auf das christliche Lehren in seiner Gesamtheit ausdehnen lassen. Das Konzil lehrt: »Die philosophischen Disziplinen sollen so dargeboten werden, daß die Alumnen vor allem zu einem gründlichen und zusammenhängenden Wissen über Mensch, Welt und Gott hingeführt werden. Sie sollen sich dabei auf das stets gültige philosophische Erbe stützen. Es sollen aber auch die philosophischen Forschungen der neueren Zeit berücksichtigt werden«.(83)

Diese Weisungen sind wiederholt in anderen lehramtlichen Dokumenten bekräftigt und genauerhin erläutert worden, um vor allem für jene, die sich auf das Theologiestudium vorbereiten, eine solide philosophische Bildung zu gewährleisten. Ich habe meinerseits mehrmals die Bedeutung dieser philosophischen Bildung für alle betont, die sich eines Tages in der Seelsorge mit den Forderungen der modernen Welt auseinandersetzen und die Ursachen mancher Haltungen werden begreifen müssen, um umgehend darauf antworten zu können.(84)

61. Wenn sich unter verschiedenen Umständen eine Intervention zu diesem Thema — wobei man auch den Wert der Einsichten des Doctor Angelicus bekräftigte und auf der Aneignung seines Denkens bestand — als notwendig erwies, so hatte das seinen Grund darin, daß die Weisungen des Lehramtes nicht immer mit der erwünschten Bereitschaft befolgt worden sind. In vielen katholischen Schulen war in den Jahren unmittelbar nach dem II. Vatikanischen Konzil diesbezüglich ein gewisser Verfall zu beobachten, der einer geringeren Wertschätzung nicht nur der scholastischen Philosophie, sondern allgemeiner des Studiums der Philosophie überhaupt zuzuschreiben ist. Mit Verwunderung und Bedauern muß ich feststellen, daß nicht wenige Theologen diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Studium der Philosophie teilen.

Es sind verschiedene Gründe, die dieser Abneigung zugrunde liegen. An erster Stelle ist das Mißtrauen gegen die Vernunft festzuhalten, das ein Großteil der zeitgenössischen Philosophie dadurch bekundet, daß auf die metaphysische Erforschung der letzten Fragen des Menschen weitgehend verzichtet wird, um die Aufmerksamkeit auf Teil- und Gebietsprobleme, mitunter auch reine Formprobleme zu konzentrieren. Außerdem kommt das Mißverständnis hinzu, das vor allem in bezug auf die »Humanwissenschaften« entstanden ist. Das II. Vatikanische Konzil hat mehrmals auf den positiven Wert der wissenschaftlichen Forschung für eine tiefere Erkenntnis des Geheimnisses des Menschen hingewiesen.(85) Die Aufforderung an die Theologen, sich diese Wissenschaften anzueignen und sie, wenn nötig, in ihrer Forschung korrekt anzuwenden, darf jedoch nicht als unausgesprochene Ermächtigung dazu interpretiert werden, die Philosophie in der Pastoralausbildung und in der praeparatio fidei nur am Rande zu behandeln oder gar zu ersetzen. Endlich darf man das wiederentdeckte Interesse für die Inkulturation des Glaubens nicht vergessen. Besonders das Leben der jungen Kirchen bot Gelegenheit, neben gehobenen Denkformen das Vorhandensein vielfältiger Ausdrucksformen der Volksweisheit zu entdecken, die ein wirkliches Erbe an Kulturen und Traditionen darstellen. Die Untersuchung dieser überlieferten Bräuche muß jedoch im Gleichschritt mit der philosophischen Forschung einhergehen. Diese erst wird es ermöglichen, die positiven Züge der Volksweisheit hervortreten zu lassen, indem die notwendige Verbindung mit der Verkündigung des Evangeliums hergestellt wird.(86)

62. Ich möchte nachdrücklich betonen, daß das Studium der Philosophie ein grundlegendes und untilgbares Wesensmerkmal im Aufbau des Theologiestudiums und in der Ausbildung der Priesteramtskandidaten darstellt. Es ist kein Zufall, daß dem Curriculum der Theologie eine Periode vorausgeht, in der eine besondere Beschäftigung mit dem Studium der Philosophie vorgesehen ist. Diese vom V. Laterankonzil bestätigte Entscheidung(87) hat ihre Wurzeln in der während des Mittelalters gereiften Erfahrung, als die Bedeutung einer konstruktiven Harmonie zwischen philosophischem und theologischem Wissen herausgestellt wurde. Diese Studienordnung hat, wenn auch auf indirekte Weise, zu einem guten Teil die Entwicklung der modernen Philosophie beeinflußt, erleichtert und gefördert. Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist der von den Disputationes metaphysicae von Francisco Suárez ausgeübte Einfluß: sie fanden sogar in den deutschen lutherischen Universitäten Eingang. Der Verlust dieser Methode war hingegen Ursache schwerwiegender Mängel sowohl in der Priesterausbildung als auch in der theologischen Forschung. Man denke an die Gleichgültigkeit dem modernen Denken und der modernen Kultur gegenüber, die dazu geführt hat, sich jeder Form von Dialog zu verschließen oder aber jede Philosophie unterschiedslos anzunehmen.

Ich vertraue sehr darauf, daß diese Schwierigkeiten durch eine sinnvolle philosophische und theologische Ausbildung überwunden werden, die in der Kirche niemals verloren gehen darf.

63. Wegen der genannten Gründe schien es mir dringend geboten, mit dieser Enzyklika das starke Interesse zu betonen, das die Kirche der Philosophie entgegenbringt; ja, es geht um die engen Bande, welche die theologische Arbeit mit der philosophischen Suche nach der Wahrheit verbinden. Daraus erwächst für das Lehramt die Verpflichtung, genau zu unterscheiden und ein philosophisches Denken anzuregen, das sich nicht in Unstimmigkeit mit dem Glauben befindet. Meine Aufgabe ist es, einige Grundsätze und Bezugspunkte vorzulegen, die ich als notwendig erachte, um wieder eine harmonische und wirksame Beziehung zwischen Philosophie und Theologie aufbauen zu können. Im Lichte dieser Grundsätze wird es möglich sein, mit größerer Klarheit zu prüfen, ob und welches Verhältnis die Theologie zu den verschiedenen philosophischen Systemen oder Auffassungen, die die heutige Welt aufweist, unterhalten solle.