- Die Relevanz lebensweltlicher Zeitkonzepte - 27. September 2015

Ulrich Beuttler: “Die Mathematisierung der Natur bedeutet zugleich die Krise der Naturwissenschaften, überwindbar durch Wiederentdeckung der Lebenswelt”
Vortrag von PD Dr. Ulrich Beuttler bei der Tagung „Zeit in Lebenswelt, Wissenschaft und Religion“ (Jahreskongress 2015 des Religion and Science Network Germany), 27.-29. September 2015, Tagungszentrum Stuttgart-Hohenheim.
Mit dem Vortrag will Ulrich Beuttler die Zeit neben Raum und Leben als ein Fundament des Wirklichen einführen. Zeit charakterisiere das Beständige, das Sein der Welt, obwohl Zeit auch die Welt als vergänglich, als flüchtig charakterisiert. Zeit sei logisch widersprüchlich (Mc Taggart), aber genau so real.
Vortrag und Diskussion
Gliederung des Vortrags
Die Zeit ist „überall und an allem“ (Aristoteles, Physik), die Zeit ist der „Horizont des Seins“(Heidegger), die Zeit ist „der universale Horizont von Welt“ (G. Picht). Zeit ist, neben Raum und Leben, das Fundament des Wirklichen. Zeit charakterisiert das Beständige, das Sein der Welt, obwohl Zeit auch die Welt als vergänglich, als flüchtig charakterisiert. Zeit ist logisch widersprüchlich (Mc Taggart), aber genau so real.
Die Mathematisierung der Natur bedeutet zugleich die Krise der Naturwissenschaften, überwindbar durch Wiederentdeckung der Lebenswelt, „nichts anderes als ein universaler, unthematischer Horizont präreflexiven, praktischen Lebens“ (Husserl) und zugleich „Geltungsboden der Wissenschaft“.
Zeit hat doppelte Gestalt, „phänomenale“ und „transzendentale“ (Picht). Zeit ist ein echtes komplementäres Phänomenen: Die Zeit hat wie die Zahl die Doppelstruktur von „gezählter Zahl und zählender Zahl“ (Aristoteles u. Hegel nach Derrida). Zeit als Fluss setzt Zeit als Bleiben voraus.
Zeit ist epistemisch flüchtig (Augustin), die Gegenwart ein fliehender Punkt, der Ausdehnung nur in der distentio animi und Wirklichkeit nur in der die Ewigkeit imitierenden Seele hat.
Dagegen Albert Magnus: Zeit hat außerseelische Realität, sie hat Sein in der Sukzession. Ebenso Newton: Das gleichförmige Fließen macht das Wesen der Zeit aus und bildet ihre Ewigkeitsdimension. Die objektive Realität der Zeit gründet in der „transzendentalen Idealität“ Gottes.
Die Gegenwart setzt die Zeit als Kontinuum fort, da sie die Möglichkeit der Sukzession in sich trägt (Leibniz). Das Jetzt ist nach Bergson Quelle des Werdens und selbst echte Zeit, „wahre Dauer“. Ihre Ausdehnung ist nach Husserl ein Präsenzfeld, welches den Zusammenhang der Impressionen stiftet. Der Zeitfluss ist ein doppelter: der äußere Strom der Ereignisse und Impressionen, und das innere Fließen des retentionalen Präsenzfeldes, dieses hat eine Art Innenausdehnung. Gegenwart als kairos ist „Atom der Ewigkeit“ (Kierkegaard). Zeit ist der Ort der Möglichkeit des Erscheinens von sinnhaftem Sein, ein Aufleuchten von „realer Gegenwart“ (G. Steiner).
Jedoch: Die Dimension der Gegenwart ist nicht das ganze Zeit-sein, sondern Präsenzfeld, in dem die Zeiten gegenwärtig sind – und darüber hinaus stehen. „Zeit kann es nur geben, wo sie nicht gänzlich entfaltet ist, wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht im gleichen Sinne sind. Es ist der Zeit wesentlich, sich zu bilden, und nicht zu sein, nie vollständig konstituiert zu sein.“ (Merleau-Ponty) Dies verdeutlicht die Figur des Chiasmus: Die Zeiten sind wechselseitig ineinander verschränkt. Damit geht sich Zeit selbst voraus und reproduziert sich selbst. Zeit ist Ursache und Wirkung, aber Kommen und Gehen der Zeit bilden keinen Kreis. Zeit ist nicht reversibel. Ihre Irrealität ist ihre Realität. „In diesem Sinne sind wir älter und jünger als wir selbst“ (B. Waldenfels).
Die Beschleunigung aller Lebensbereiche führt zu einer totalen Gleichzeitigkeit, zu „Simultanten“ (K.H. Geißler) und „rasendem Stillstand“ (Paul Virilio). Die Beschleunigungsgesellschaft gibt das illusionäre Versprechen des ewig Gleichzeitigen, in der säkularen Gesellschaft ein „funktionales Äquivalent für die (religiöse) Verheißung des ewigen Lebens“ (H. Rosa). Tatsächlich existiert aber die sinnleere „flüchtige Moderne“ (Z. Baumann) mit ihren „Nicht-Orten“ (M. Augé), ihrer „Un-Zeit“ und „Dyschronie“ (B.-C. Han). Zeit ist ohne ihr Anderes, die Ruhe, die Heimat illusionär. Zeit ist nur lebenswerte und lebensfähige Zeit, wenn sie geschenkte, also von oben oder von innen, jedenfalls sinnhaft gefüllte Zeit ist, für den, der sagen kann: Meine Zeit steht in deinen Händen (Ps 31,6).
Ausgewählte Beiträge der Tagung
Heinz-Hermann Peitz (Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart) und Tobias Müller (Hochschule für Philosophie München) eröffnen die Tagung "Zeit in Lebenswelt, Wissenschaft und Religion" (Jahreskongress 2015 des Religion and Science Network Germany)
Das tiefste Geheimnis der Physik ist in der Tat: Die Physik ist zeitsymmetrisch, die Natur ist es nicht. Lösung liegt in den Rand- und Anfangsbedingungen.
Ausgangspunkt ist die Vorstellung eines 4-dimensionalen sog. Blockuniversums, Grössl selbst argumentiert jedoch für einen 3-Dimensionalismus mit offener Zukunft, weil weder menschliche Willensfreiheit noch die Personalität und Freiheit Gottes mit einem Blockuniversum vereinbar sind.
Zeit ist neben Raum und Leben ein Fundament des Wirklichen. Zeit ist das Beständige, das Sein der Welt, obwohl Zeit auch die Welt als vergänglich, als flüchtig charakterisiert. Zeit ist logisch widersprüchlich, aber dennoch real.
Herkömmliche Zeitdispositive haben sich aufgelöst zugunsten eines Ereignisdispositiv, der "ereignisbasierten Verzeitlichung von Leben und Welt in der Gegenwart".
Die Ähnlichkeit von theologischen und naturwissenschaftlichen Zeitvorstellungen liegt im Übergang von Möglichkeit zur Wirklichkeit. Unterschiede liegen in der Art des Möglichkeitshorizonts.