- Wieviel Wissenschaft braucht die Gesellschaft? - 14. September 2021
Der Soziologe Alexander Bogner geht der Frage nach, wie ein konstruktives Miteinander von Wissenschaft und Gesellschaft gelingen kann. Hintergrund ist der Trend, dass die Wissenschaften immer mehr in das Zentrum öffentlicher Auseinandersetzungen und politischer Debatten rücken, dabei aber ein Zangengriff von Wissenschaftsvergötzung und Wissenschaftsleugnung entsteht.
Besonders auffällig ist die umstrittene Dominanz der Wissenschaften in der Corona Krise geworden. Doch ebenso zentral sind wissenschaftliche Erkenntnisse in der Klimakrise. Hier wie dort gibt es sehr gegensätzliche Reaktionen auf diese Befunde. Die eine Gruppe lehnt die “Mainstream”- Wissenschaften ab und zieht “alternative Fakten” inklusive Verschwörungsglauben vor. Die andere Gruppe dagegen fordert, Entscheidungen strikt an den Erkenntnissen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu orientieren und zielt damit auf eine “Epistemokratie” (epistéme = Erkenntnis, Wissen, Wissenschaft). Beide Extreme aber sind für eine Demokratie schwierig, sowohl Faktenleugnung, als auch die Reduzierung der Welt auf eine Faktenbeschreibung. Als Autor des Buches “Die Epistemisierung des Politischen” hat Alexander Bogner eine einschlägige Analyse des Dilemmas vorgelegt, die im Abendvortrag am 7. Semptember 2021 zur Diskussion gestellt wurde.
Die folgende Zusammenfassung von Vortrag und Diskussion erfolgte von Ludwig Motz und Heinz-Hermann Peitz.
Wieviel Wissenschaft braucht die Gesellschaft?
Einleitung: Wissenschaft als zentrales Charakteristikum der gegenwärtigen Gesellschaft
Bogner analysiert zunächst die Konsequenzen, die der Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft mit sich bringe. Das Wissen sei zunehmend als zentrale Ressource entdeckt worden, als zentrale Triebfeder von Technik und Wirtschaft, aber auch als Grundlage und Legitimationsressource politischer Entscheidungen. Von der Verwissenschaftlichung der Politik habe man erwartet, dass das bessere Wissen der ExpertInnen eine unerbittliche Sachzwang-Wirkung entfalten und politische Kämpfe erübrigen würde. Diese Hoffnung habe sich jedoch nicht erfüllt. Stattdessen blühten ideologische Kämpfe und Protestformen auf, und manche hätten gar den Eindruck, “dass der Amoklauf gegen Rationalismus und Expertentum mittlerweile zum Massensport geworden ist”.
Gesellschaft zwischen Wissenschaftsleugnung und Wissenschaftsvergötzung
Dieses Skizze gemäß befände sich die Gesellschaft in einem Zangengriff von Wissenschaftsleugnung auf der einen und Wissenschaftsvergötzung auf der anderen Seite. Dem Boom von ‘alternativen Fakten’ und Verschwörungstheorien stünden Schlagworte wie ‘follow the science’ und ‘unite behind science’ gegenüber. Bogner zeigt, dass es einen inneren Zusammenhang zwischen diesen widersprüchlichen Tendenzen gibt.
Wissenschaftsbegeisterung
Im Unterschied zur ehemaligen Cholera-Welle, bei der es vielerorts zu Ordnungsverlust und Anomie gekommen sei, habe sich die Situation im Corona-Jahr 2020 völlig anders dargestellt. Rasch habe es einen breiten gesellschaftlichen Konsens gegeben, dem Gesundheitsschutz wurde überall oberste Priorität eingeräumt, und es habe nie ein Zweifel darüber bestanden, dass die Wissenschaft die oberste Schutzmacht sei. In den Medien seien Virologen wie Popstars gehandelt worden.
“Die bayerische Staatsregierung hat ihre Handlungen mit Ärzten, Virologen und Experten abgestimmt. Es gilt das Primat der Medizin.” Markus Söder
Der Primat der Wissenschaft habe in der Frühphase der Krise eine Politik der Alternativlosigkeit unterstützt. Die Erwartung, dass die Politik dem Expertenkonsens folgen müsse, habe für die Wissenschaft neue Möglichkeiten eröffnet, politischen Einfluss auszuüben. Auch im Klimabereich gebe es seitens der Klimaforschung Bemühungen, das Ausmaß des Expertenkonsenses zu bestimmten Fragen zu quantifizieren, um den weitgehenden Expertenkonsens zu dokumentieren und damit den Druck auf die Politik zu erhöhen. Analog habe man auch in der Coronakrise eine solche Konsenspolitik der Experten beobachten können.
Als Beispiel nannte Bogner die Dezember 2020 von der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften, veröffentlichte Stellungnahme zur Coronapolitik. Eine 34-köpfige Arbeitsgruppe habe damals einstimmig für einen harten Lockdown votiert – in Übereinstimmung mit der Regierungslinie. Laut Historiker Caspar Hirschi hätte es sich hier eigentlich gar nicht um wissenschaftliche Expertise im strengen Sinn handeln können, weil Expertise nämlich an politischer Ergebnisoffenheit zu erkennen sei. Es habe sich vielmehr um einen klaren politischen Appell gehandelt. Und man habe damals den Eindruck gehabt, dass dieses Leopoldina-Konsens-Papier gar nicht zwischen den unterzeichnenden Fachleuten und Disziplinen ausgehandelt und durch kontroverse Diskussionen entwickelt worden war. Es hätte vielmehr den Anschein gehabt, als wären namhafte Fachleute für eine ex ante feststehende Position zum Unterschreiben gesucht und als sei Interdisziplinarität nur simuliert worden. Für Bogner wird an diesem Beispiel deutlich: “Der Expertenkonsens in Gestalt interdisziplinärer Konsenspapiere wird als Ersatz für die letztlich niemals einzuholende Wahrheit gehandelt”.
Im Zuge eines solchen autoritativen Expertenkonsenses erschienen Gegenstimmen nicht nur als sachlich fragwürdig, sondern auch als politisch unverantwortlich. An die Stelle einer offenen Abwägung verschiedener Handlungsoptionen trete die Konstruktion eines politischen Sachzwangs. Man tue so, oder man glaube auch wirklich, dass es für politische Streitfragen nur die eine rationale Lösung gibt.
Um Missverständnissen zu begegnen, räumte Bogner ein, dass ein wissenschaftsinduzierter Sachzwang durchaus legitim sein kann, nämlich dann, wenn ein weitgehender Wertekonsens herrsche. In der Pandemie habe es zu Beginn der Krise einen solchen Wertekonsens tatsächlich auch gegeben, später aber nicht mehr. Und so wäre bald darüber gestritten worden, was uns der Lebensschutz wert ist, welche Freiheitsrechte wir dafür aufzugeben bereit sind, welche psychosozialen Folgekosten dafür zu zahlen sind und so weiter.
Wenn die Wissenschaft in einer solchen Situation den Eindruck zu erwecken versuche, es gebe nur eine rational begründete Handlungsoption, und wenn die Politik sich in der Folge als ‘alternativlos’ verstehe, rufe dies zwangsläufig Widerstand hervor.
Wissenschaftsskeptizismus
Bogner wechselte von der Ebene der kritiklosen Wissenschaftsgläubigkeit oder des Szientismus auf die andere Seite, nämlich hinüber zum oft diagnostizierten Boom der Verschwörungstheorien in der Coronapandemie, zum Widerstand also.
Die Corona-Leugner seien davon überzeugt, einen legitimen Befreiungskampf gegen das politische und wissenschaftliche Establishment zu führen und für die unterdrückte Wahrheit zu kämpfen. Diese Überzeugung teilten sie im Übrigen mit anderen antiwissenschaftlichen Bewegungen, die im Englischen unter dem Sammelbegriff “Science denialism” geführt werden. Zu dieser Allianz der Wissens- oder Wissenschaftsleugner gehörten eben auch Klimawandelleugner, Anhänger des Kreationismus, Verfechter der Flat-Earth-Bewegung oder eben auch fundamentalistische Impfgegner.
Science denialism: Die Klimaerwärmung? Ist das denn nicht nur eine Erfindung der Chinesen? Oder: Ist der Mensch tatsächlich ein Resultat der Evolution? Ist denn die Erde nicht tatsächlich eine flache Scheibe? Und SARS-CoV-2 nur ein harmloses Grippevirus?
Im Rahmen ihrer Wissenspolitik berufen sich lt. Bogner die Wissensleugner oft genug auf Überläufer, also ehemals renommierte Wissenschaftler aus dem Mainstream, die sich heute als Gallionsfiguren des Widerstands formierten. Im Kampf gegen das Impfen habe lange Zeit der englische Kinderarzt Andrew Wakefield als eine solche Figur gedient; in der Coronapandemie sei es zum Beispiel Sucharit Bhakdi. Die Wissensleugner hinterfragten die Evidenzansprüche der Mainstream-Wissenschaft, wiesen auf Inkonsistenzen hin oder stellten jene Methoden und Theorien infrage, die man zur Interpretation der Ergebnisse braucht. Es werde hinterfragt, ob auch wirklich alle relevanten Gruppen im Prozess der Wissensgenerierung gehört wurden und ob das gegebene Maß an Übereinstimmung zwischen den Experten tatsächlich gleichbedeutend sei mit Konsens. Bogner: “Existiert dann dieser Expertenkonsens tatsächlich, wird er sogleich als Ausdruck einer Wagenburg-Mentalität attackiert”.
Als Grund für die verstärkte Sichtbarkeit von Verschwörungstheorien bzw. alternativen Fakten in der Coronapandemie macht Bogner den Zweifel an der Zuverlässigkeit von Studien und Daten, an der Glaubwürdigkeit von Szenarien und Methoden oder auch an der Stichhaltigkeit von Grenzwerten und Kennzahlen. In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückten deshalb epistemische Aspekte, also Fakten, Evidenzen, kognitive Kompetenzen. Daraus folge, dass sich der politische Streit in vielen Fällen auf Wissensaspekte konzentriere oder, wie man auch sagen könnte, beschränke.
Profunde Wissenschaftskenntnisse werden damit – Bogner zufolge – zu einer unerlässlichen Voraussetzung, um an diesen Wissenskonflikten ernsthaft teilhaben zu können, auch im Corona-Fall. Eine Politik, die im Einvernehmen mit Virologie und Epidemiologie handele, lässt sich nicht so leicht anfechten, und die Vormacht der Wissenschaft begünstige eine Politik der Alternativlosigkeit; die Politik gerate dabei in die Gefahr, auf ein Exekutivorgan der Wissenschaft reduziert zu werden: “follow the science”.
Wer es nicht schaffe, seine eigene normative Position durch Rekurs auf Expertenwissen abzustützen, der gerate dann schnell ins Hintertreffen. Als Ausweg bleibe dann nur, die etablierte Faktenwelt auf den Kopf zu stellen.
“Alternative Fakten haben Konjunktur, wenn sich Politik dank weitgehender Übereinstimmung mit der Wissenschaft als alternativlos versteht.” Alexander Bogner
Außerdem gehe es im Streit um die richtigen Klima- oder Coronamaßnahmen letztlich nicht einfach nur darum, welche Daten, Zahlen und Fakten denn nun wirklich stimmen. Es gehe letztlich darum, was wir als gutes Leben begreifen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, welche Zukunft wir wollen und welche Einschränkungen wir dafür in Kauf zu nehmen bereit sind. Die “Leugner-Bewegung” erinnere uns (unbeabsichtigt) daran, dass der starke Fokus auf Wissenschaft und Expertise jene wichtigen Aspekte an den Rand zu drängen droht, die politische Kontroversen überhaupt erst richtig in Gang bringen, nämlich divergierende Werte, Weltbilder und Interessen.
“Der Protest der ‘Wissenschaftsleugner’ erinnert daran, dass selbst dann, wenn alle politischen Probleme sich erfolgreich in Wissensfragen übersetzen lassen, die eigentlichen Probleme auch bei richtiger Beantwortung dieser Wissensfragen noch ungelöst sein werden.” Alexander Bogner
Ein Szientismus verfehle den Charakter des Politischen, denn Politik habe die Vermittlung widerstreitender Interessen und Standpunkte zu leisten, um mehrheitsfähige Entscheidungen zustande zu bringen. Politik legitimiere sich über Mehrheiten und Verfassungsmäßigkeit und nicht über Wahrheit. Würde sich die Politik nur mehr nach der Macht der Evidenz richten, nur mehr nach der wissenschaftlicher Erkenntnis, würde sie sich selbst überflüssig machen.
Kognitive Überforderung der Politik?
Jetzt könne man natürlich einwenden, die Politik müsse schließlich der Wissenschaft folgen, wenn es um komplizierte Sachfragen geht. Dabei werde sogleich eine neue Frage aufgeworfen: Kann die Politik das denn überhaupt? Kann sie der Wissenschaft tatsächlich folgen? Ist sie nicht heillos überfordert und eigentlich inkompetent, wenn es um solch schwierige Fragen geht wie Klimagefahren, 5G-Netze, Rentensysteme, Datenschutz, künstliche Intelligenz oder Synthetische Biologie? Lassen sich solche Fragen überhaupt noch im Rahmen demokratischer Politik verhandeln? Mit solchen Fragen sei ein Teil dessen umschrieben, was gegenwärtig unter dem Schlagwort ‘Krise der Demokratie’ verhandelt werde. In dieser Krise gehe es nicht allein, aber eben unter anderem, um die kognitive Überforderung der Politik und um ihren Attraktivitätsverlust für die breite Masse, wenn Politik so stark versachlicht und verwissenschaftlicht werde, wie eben beispielhaft in der Corona- oder auch in der Klimakrise.
Die Demokratiekrise als epistemisches Problem?
Bogner sieht es nun als problematisch an, dass aktuelle Vorschläge zur Überwindung der Demokratiekrise genau jene Tendenz unterstützen, die er als “Epistemisierung des Politischen” charakterisiert hatte. Diese Vorschläge verstünden die Krise der Demokratie als ein epistemisches Problem, nämlich entweder als Folge inkompetenter Politik oder als Folge geistig überforderter Wählerinnen und Wähler.
Gegen die Inkompetenz der Politik gibt es den Vorschlag, schwierige Sachfragen an Expertengremien zu delegieren, um Politik zu entlasten, ihre Gestaltungskräfte zu stärken und sie damit wieder attraktiv zu machen.
“Das Motto dieses Lösungsvorschlags lautet also: Lieber transparent delegieren als dilettantisch regieren.” Alexander Bogner
Um der Überforderung der WählerInnen zu begegnen, gebe es Bestrebungen, politische Partizipation nach den kognitiven Fähigkeiten der Leute zu staffeln, eine Art von Sozialkunde-‘Führerschein’ als Vorbedingung für die individuelle Ausübung des Wahlrechts.
“Ohne so einen Führerschein werden wir aus den vielen Krisen der Gegenwart nicht herausfinden, denn die Dummen wählen dumme Politiker und stehen damit einer fortschrittlichen Politik im Weg.” Frei nach dem US-Philosophen Jason Brennan
Um die Demokratie zu retten, sollen also dieser Bestrebung zufolge die demokratischen Teilhabechancen eingeschränkt werden. Diese Position – und damit schließe sich der Bogen zu Wissenschaftsgläubigkeit und Epistemisierungsgeschichte – verdanke sich aber letztlich dem Aberglauben, dass fortschrittliche Politik sich auf die richtige Beantwortung von Sachfragen beschränken lässt.
Fazit: Wissenschaft und Politik – Auf das richtige Verhältnis kommt es an
Wie lautete das Fazit? Politik soll, so Bogner, der Wissenschaft folgen, ganz zweifellos, ohne aber zu vergessen, dass sie sich überflüssig macht, wenn sie sich der Macht, der Evidenz oder dem Konsens der Experten unterwirft. So schließt Bogner:
“Politik ist wesentlich durch den konstruktiven Umgang mit Pluralität charakterisiert. Dies erfordert die Einbeziehung möglichst vieler Stimmen und Meinungen. Einer Politik jedoch, die sich über Wissen und Wahrheit legitimiert, muss Bürgerbeteiligung letztlich nur als Ballast erscheinen. Demokratie wäre aus einer solchen Perspektive eigentlich nichts anderes als eine Diktatur der Dummen. Genau darin besteht das Problem all jener, die aus Angst vor grassierender Wissenschaftsfeindlichkeit, aus Angst vor Verschwörungstheorien und Populismus sozusagen kompromisslos auf die Wissenschaft setzen und unter Forderungen wie ‘Folgt der Wissenschaft!’ den irrigen Eindruck erwecken, jeder noch so kleine politische Handlungsspielraum sei eigentlich eine Gefahr für Demokratie und Rationalismus. Nicht nur Ignoranz, Fake News und Verschwörungstheorien gefährden die Demokratie. Auch eine naive oder kritiklose Begeisterung für Wissenschaft und Wahrheit kann gefährlich werden, und zwar dann, wenn man die Politik darauf beschränken will, den Weisungen einer Wissenselite zu folgen.”
Die Diskussion
Frank Vogelsang, evangelische Akademie im Rheinland, eröffnete mit der Frage, ob nicht gerade in der Coronakrise eine besonders hochwertige Wissenschaftskommunikation stattgefunden habe, in der wissenschaftliches Wissen den Menschen zeitnah zur Verfügung gestellt worden sei. Alexander Bogner konnte dem zustimmen – zumindest was den Beginn der Krise betreffe. Wir hätten – zumindest in Deutschland – ein ungeheures Niveau an Wissenschaftskommunikation gehabt, man denke an die Podcasts von Christian Drosten, von Lothar Wieler und anderen. Dabei sei richtigerweise auch immer von hochrangigen Expertinnen und Experten versichert worden, dass es seitens der Wissenschaft nur um Beratung gehen könne und dass die Wissenschaft kein politisches Mandat habe. Im weiteren Verlauf der Krise sei diese Beteuerung jedoch zum Teil konterkariert worden durch die beschriebenen interdisziplinären Konsenspapiere, die nicht nur von Seiten der Leopoldina, sondern auch im internationalen Rahmen publiziert wurden. Hier seien beispielsweise in der medizinischen Fachzeitschrift “The Lancet” mehrere konsensual verfasste Strategiepapiere von großen interdisziplinären Expertenallianzen veröffentlicht worden, die eben nicht in Auseinandersetzung mit Gegenpositionen eine bestimmte Option aufgemacht, sondern quasi Direktiven an die Politik oder einen politischen Appell formuliert hätten. Dies sei die problematische Seite der ansonsten guten und transparenten Wissenschaftskommunikation.
Heinz-Hermann Peitz, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, griff dies mit seinem Eindruck auf, dass nicht nur Fachzeitschriften, sondern erst recht die öffentlichen Medien ein zu homogenes Konsensbild gezeichnet hätten. Man hätte nicht auf Extrempositionen wie den von Bogner bereits genannten Sucharit Bhakdi (“Corona Fehlalarm”) zurückgreifen müssen, auch gemäßigte und renommierte Kritiker wie der Mediziner Wolfgang Wodarg oder der Ex-Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio seien in öffentlichen Diskussionen zu kurz gekommen. Auch dies konnte Bogner nur bestätigen.
Es habe sich in der medialen Darstellung der Eindruck einer Meinungsführerschaft ergeben mit einer darauf folgenden Aburteilung von Dissidenten. Und zu diesen Dissidenten hätten ja dann nicht nur Leute wie Wodarg oder Bhakdi gehört, bei denen schnell der Vorwurf des Corunaleugnertums bei der Hand war, sondern haben auch einschlägige Wissenschaftler wie Hendrik Streeck oder Alexander Kekulé. Es wäre interessant gewesen, die unterschiedlichen Experten-Positionen auch konstruktiv diskutieren zu lassen, ein interdisziplinäres Gremium zu schaffen, bei dem die unterschiedlichen wissenschaftlichen, auch weltanschaulichen Standpunkte und Prämissen diskutiert werden. Dabei vor allem die Frage, warum wir in der Interpretation der Daten zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Die Genannten seien ja keine Fakten- oder Coronaleugner, sondern es handle sich immer um Fragen des Framings, um Wertüberzeugungen. Es seine bestimmte Selektivitäten, Prämissen im Spiel, die dann zu unterschiedlichen Ergebnissen, Einschätzungen und Handlungsempfehlungen führten. Hätte man diese Diskussion ‘live’ unter Experten gehört, wäre auch der Dissens produktiv geworden und hätte nicht in politischen Grabenkämpfen geendet.
In diesem Kontext wies Jürgen Hampel, Institut für Sozialwissenschaften u. Lehrstuhl für Technik- und Umweltsoziologie der Universität Stuttgart, auf die Notwendigkeit hin, auch die Pluralität der wissenschaftlichen Disziplinen zu beachten und diese nicht als homogenen Block wahrzunehmen. Auch bezüglich der Corona-Pandemie sei eine Akzentverschiebung der in der Gesellschaft fokussierten Wissenschaftsbereiche zu beobachten. So sei zu Beginn der Krise das Augenmerk vor allem auf die Naturwissenschaften gelegt worden und erst später habe man gefragt, welche politischen, wirtschaftlichen, sozial- und gesellschaftlichen Fragestellungen die Corona-Pandemie impliziere. Diese vielfältigen Bereiche der Wissenschaft gelte es wahrzunehmen, um Einseitigkeiten oder Engführungen zu vermeiden.
“Es wurde schon zu Beginn der Pandemie eingefordert, dass man sich dies auch mit sozialwissenschaftlichen Methoden anschaut: Wie verteilt sich das Virus in der Bevölkerung? Wo sind die virulenten Gruppen, die wir vielleicht besser schützen müssen? Und das hätte dann auch zu anderen Maßnahmen geführt …” Jürgen Hampel
Alexander Bogner stimmte Hampel zu und ergänzte, dass das Problem darin bestehe, dass in der Pandemie die verschiedenen wissenschaftlichen Felder nicht zueinander ins Verhältnis gesetzt wurden. Die verschiedenen Perspektiven, Positionen und Spezialisierungen der Wissenschaftler seien nebeneinander stehen geblieben und wurden nicht ausreichend miteinander ins Gespräch gebracht, was dazu führte, dass entsprechende Erkenntnisse beispielsweise auf politischer Ebene nicht operationalisiert und umgesetzt werden konnten.
Heike Baranzke, Lehrbeauftragte für Systematische Theologie an der Universität Wuppertal, plädierte anschließend für eine Trennung von Wissenschaft und Politik, die bezogen auf die Coronakrise nicht immer durchgehalten worden sei. Beide Bereiche arbeiteten zwar mitunter an denselben Themen, jedoch mit unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen. Aufgabe der Wissenschaften sei es, gesicherte Fakten zu generieren. Demgegenüber stehe die Politik vor der Herausforderung, durch Diskurse Entscheidungen zu treffen, die zwar den Fakten nicht gegenüberstehen, jedoch bisweilen durch Kompromisse beeinflusst seien. So gebe es durchaus verschiedene Möglichkeiten, sich politisch zu ein und derselben Faktenlage zu verhalten und darauf zu reagieren. Es habe beispielsweise vor allem am Beginn der Pandemie – auch bei Anerkennung der naturwissenschaftlichen Kenntnisse – einen Wertedissens gegeben, bei dem unklar war, welche Ziele jeweils verfolgt werden sollten. Es blieb offen, ob bestimmte vulnerable Gruppen oder jedes Menschenleben geschützt werden sollte oder ob es das Ziel war, das Gesundheitssystem vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Aus dieser Unterscheidung zwischen den Aufgaben der Wissenschaft und der Politik erkläre sich der Dissens bezüglich der Handlungsoptionen bei weitestgehendem Konsens und Zustimmung der naturwissenschaftlichen Fakten.
“Politik ist die Kunst der Kompromisse. Die Hard Sciences kennen keine Kompromisse.” Heike Baranzke
Den Unterschied zwischen der politischen und der wissenschaftlichen Arbeitsweise herauszustellen, sei von außerordentlich hoher Relevanz, da man bei Nichtbeachtung dessen in den Bereich der Ideologie und der alternativen Fakten abzugleiten drohe.
Veranstalter
Die Ausrichter der Veranstaltung “FNT-interaktiv” betreiben die interdisziplinäre Facebook Seite forum.naturwissenschaft.theologie (FNT). Sie thematisiert in ihren Beiträgen die wissenschaftliche Weltbeschreibung und ihre Integration in ein umfassendes Weltbild.

Pilotveranstaltung FNT-interaktiv mit Prof. Dr. Alexander Bogner. Das Redaktionsteam von FNT in der unteren Reihe (Dr. Heinz-Hermann Peitz, Stuttgart, Dr. Frank Vogelsang, Bonn, Dr. Andreas Losch, Bern; v.l.n.r.) wird ergänzt durch Hella Blum, Öffentlichkeitsarbeit, Bonn.