Teilhard de Chardin: Meine denkerische Position

von Thomas Broch

Thomas Broch
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Pierre Teilhard de Chardin (c) American Museum of Natural History

Pierre Teilhard de Chardin (c) American Museum of Natural History

Eine Skizze des Teilhardschen Weltbilds

Die „Weltanschauung” Teilhards de Chardin sei im Folgenden an Hand einer von Teilhard selbst erstellten Zusammenfassung mit dem Titel „Ma position intellectuelle“ (1948) kurz skizziert.

(kursiv: Originalzitate Teilhard de Chardin, eingeleitet und kommentiert von Thomas Broch)

 

Die „Phänomenologie“ Teilhards ist eine Einheitsschau, eine Sicht der Welt „as a whole“, die das gesamte kosmische Geschehen in einem umfassenden Gesamtzusammenhang interpretiert sieht und interpretiert. Diese Einheit ist freilich nicht in statischer und undialektischer Weise als Identität zu verstehen. Einheit ist immer ein Prozess der Einswerdung, ist Dynamik und Aufgabe; das universale Geschehen ist ein evolutiver Prozess. Der zentrale Gedanke ist derjenige der Evolution; das heißt, dass alles, gar alles, Ergebnis einer Werdegeschichte ist, deren Wurzeln unabsehbar weit ins Dunkel der Vergangenheit zurückreichen.
Die Evolution aber wird unter der Perspektive des Menschen interpretiert. Dass die Evolution den homo sapiens hervorbringen konnte, zwingt zu Rückschlüssen auf ihre Grundgesetze und ihren gesamten bisherigen Verlauf. Wenn mit dem Menschen Geist, Selbstbewusstsein, reflektierendes Denken, Freiheit auftreten konnten, dann müssen diese Phänomene dem Evolutionsgeschehen von Anfang an, wenn auch in noch so rudimentärer Form, innegewohnt haben. Das “Innen der Dinge” nennt Teilhard dies – auch in den elementarsten Formen des Materiellen, des Vorlebendigen, des Lebens mitzudenken. Eine “geistige Energie” – Freiheit, Personalität im weitesten Sinne – musste zu allen Zeiten als gestaltende Dynamik dem Evolutionsgeschehen in all seinen Formen innewohnen, um sich in Wechselwirkung mit immer komplexeren Formen der materiellen Organisation bis hin zum Menschen zu verwirklichen. “Zentro-Komplexität” nennt Teilhard dieses universale Gesetz der Evolution.

“Ein Rekurrenz-Gesetz, alle Erfahrung begründend und beherrschend, […] drängt sich unserer Beobachtung auf: ‘Komplexitäts-Bewusstseins’-Gesetz, kraft dessen sich im Inneren des Lebens der kosmische Stoff immer enger in sich einrollt und einem Organisations-Prozess folgt, der an einem korrelierenden Anwachsen psychischer Spannung (oder Temperatur) gemessen werden kann. Im Bereich unserer Beobachtung repräsentiert der reflektierende Mensch den erhabensten elementaren Zielpunkt dieser Bewegung der Anordnung.”

Aber mit dem Auftreten des homo sapiens ist die Evolution nicht zum Stillstand gekommen, sondern setzt sich in einer völlig neuen Dimension fort. Und auch hier behält das Grundgesetz der “Zentro-Komplexität” seine Bedeutung. Auf der Ebene des Menschen, in der “Noosphäre” – ein Terminus, den Teilhard kreiert hat und der in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen ist – setzt sich die Evolution in allen Formen der sozialen Organisation, in den Entwicklungen der Gesellschafts- und Staatsformen, in Kultur und Zivilisation, in Naturwissenschaften, Forschung und Technik fort – auch auf dieser Ebene im Wechselspiel mit einem sich verdichtenden Prozess eines gemeinsamen Denkens, der “Ko-Reflexion”, und – Phänomen und Auftrag zugleich – eines gemeinsamen Fühlens, einer gemeinsamen Verantwortung und eines leidenschaftlichen Engagements für diesen Menschheitsfortschritt. All dies wird potenziert durch eine immer mehr sich vernetzende Internationalisierung und Globalisierung – “Sozialisation”, “Totalisation”, wie Teilhard es nennt; und erst heute werden wir wohl gewahr, wie weitblickend Teilhard in dieser Sicht einer unauflöslich sich vernetzenden Einen Welt gewesen ist. Ein gemeinsames Fühlen, “Kon-Spiration”, eine universale Liebe ist die innere Kraft dieses Geschehens: ein “Gehirn von Gehirnen” und zugleich ein “Herz von Herzen”.

[…] Oberhalb des individuellen Menschen verlängert sich die Einrollung noch durch das soziale Phänomen, in der Menschheit, an deren Ziel sich ein höherer und kritischer Punkt kollektiver Reflexion wahrnehmen läßt.”

Der Prozess “fortschreitender Vermenschlichung der Menschheit” ist nicht unbegrenzt; er strebt – in welchen Zeitdimensionen auch immer betrachtet – auf ein Ziel hin, auf einen Gipfelpunkt geschichtlicher Vollendung. Teilhard nennt ihn den “Punkt Omega“, und er ist mit dieser Chiffre wohl am allermeisten nachhaltig bekannt geblieben. “Omega” wird zum einen verstanden als innergeschichtliches Ziel des kosmischen und menschheitlichen Reifeprozesses, zum andern bedeutet er aber auch die eschatologische Vollendung der Welt in GottGott selbst, transzendent, personal, Liebe in Vollendung. Diese Erwartung Gott-Omegas und das Vertrauen auf sein Erscheinen stellen für Teilhard aber auch ein unabdingbares Postulat menschlichen Handelns und menschlicher Freiheit dar, ohne welches der vorwärtsdrängende Elan des kosmischen und menschheitlichen Prozesses in sich zusammenbrechen würde.

“[…] Die ‘Hominisation’ (einschließlich der Sozialisation) ist ein konvergentes Phänomen (das heißt, es weist eine Obergrenze, einen inneren ‘Reifepunkt’ auf). Aber dieses konvergente Phänomen ist strukturell gleichermaßen von irreversibler Natur: in dem Sinn, dass die Evolution, welche im Menschen reflektiert und frei geworden ist, ihren aufsteigenden Weg in Richtung Zentro-Komplexität nur dann fortsetzen kann, wenn sie erkennt, dass die ‘vitale Einrollung’ nicht nur (nach vorne) einer Vernichtung oder einem totalen Tod entkommt, sondern dass sie auch die ganze bewahrenswürdige Essenz dessen, was das Leben unterwegs erzeugt haben wird, sammelt. Diese Bedingung impliziert am oberen Zielpunkt der kosmischen Konvergenz strukturell die Existenz eines transzendenten Zentrums der Vereinigung, ‘den Punkt Omega’. Ohne diesen Brennpunkt, der unumkehrbar macht und zugleich versammelt, ist es unmöglich, das evolutive Rekurrenz-Gesetz zu wahren – bis zum Schluss.”

All dies bewegt sich für Teilhard noch auf der Ebene der “Physik”, also in dem Bereich, welcher der wissenschaftlichen Erfahrung zugänglich ist – wobei immer ein ganzheitlicher Wissenschaftsbegriff vorausgesetzt werden muss.

Auf dieser Grundlage nun baut er auf:

“1) Zunächst eine Apologetik: unter dem erleuchtenden Einfluß der Gnade erkennt unser Geist in den einheitsstiftenden Eigenschaften des christlichen Phänomens eine Offenbarung (Reflexion) Omegas im menschlichen Bewusstsein; und er identifiziert Omega vernunftgemäß mit dem Christus-Universalis der Offenbarung.

2) Und gleichzeitig eine Mystik: die gesamte Evolution, welche sich zurückführen läßt auf einen Prozess der Einigung (und der Kommunion) mit Gott, wird vollständig liebend und liebenswert im Innersten und Letzten unserer Entwicklungen.”

In der Zusammenschau dieser drei Ebenen – des phänomenal Erfahrbaren, der Apologetik, der Mystik – ergibt sich für Teilhard ein philosophisches Deutungsmuster, das eine alte philosophiegeschichtliche Tradition aufgreift: die “Metaphysik der Union”. Sie bedeutet, dass alles Sein Werden ist, ein Geschehen, ein Prozess; dass dieser Prozess darin besteht, dass das Viele auf allen Ebenen der Entwicklung zu einer höheren Einheit hin drängt und in einer höheren Einheit versammelt wird; und dass sich der jeweils erreichte Grad an Seinsmächtigkeit messen läßt am erreichten Grad der Einheit. In Teilhards Worten: Es gibt eine “grundlegende ontologische Beziehung zwischen dem Sein und der Vereinigung“, die sich in zwei “metaphysischen Axiomen” ausdrückt: “Plus esse est plus a pluribus uniri – mehr sein ist mehr aus mehreren vereinigt werden” – das ist der passive Aspekt – , und der aktive Aspekt: “Plus esse est plus plura unire – mehr sein ist mehreres mehr vereinen.”
Theologisch interpretiert ist dieses Vereinigungsgeschehen schöpferisch; anders gesagt: Schöpfung ereignet sich durch Vereinigung und als Einswerdung – der Seienden miteinander und gemeinsam mit Gott. “Erschaffen ist vereinigen”, sagt Teilhard; die Evolution, das Werden des Kosmos und der Menschheit wird gedeutet als “unio creatrix“, als “Schöpferische Einigung”. Und die versammelnde Kraft dieses Einswerdungsprozesses ist in allen Phasen die Liebe, welche ausgeht von der Liebe Gottes, zu ihm zurückführt und in ihm begründet ist.

“Zusammengefasst legen die drei Bereiche des Systems (Physik, Apologetik, Mystik) leicht eine Einigungsmetaphysik nahe und regen sie an, welche durch die Liebe bestimmt ist und worin selbst das Problem des Übels eine denkerisch einfache und einleuchtende Lösung findet (statistische Notwendigkeit von Unordnungen im Innern eine Vielheit auf dem Weg der Organisation.”

Es kann hier nur angedeutet werden, dass das hier gleichsam in einer Kurzformel zusammengefaßte Denkgebäude Teilhards in engstem Zusammenhang mit seiner kosmischen Christologie steht, welche ihrerseits ihre Wurzeln in Erfahrungen mystischer Art hat. In dem im Kriegsjahr 1917 verfaßten Aufsatz “L’Union Créatrice – Die Schöpferische Vereinigung” kann Teilhard sagen, diese Philosophie der schöpferischen Vereinigung sei eine “Philosophie des Universums”, welche “in Funktion” des Begriffs des mystischen Leibes Christi konzipiert worden sei.
So ist es nicht verfehlt, an der Basis des Teilhardschen Denkens ein Glaubensbekenntnis zu sehen, welches alles andere durchdringt. In einer anderen “Kurzformel” seines Denkens schreibt er in geradezu hymnischer Form: “Ich glaube, dass das Universum eine Evolution ist. Ich glaube, dass die Evolution auf den Geist hingeht. Ich glaube, dass der Geist sich im Personalen vollendet [im Menschen, wird er später hinzufügen]. Ich glaube, dass das höchste Personale der Christus Universalis ist.”

 

Dieser Beitrag ist Teil der Tagung “Punkt Omega“.

Die Beiträge der Tagung in voller Länge: