Unter dem Titel “Erfahrung und Transzendenz” ging es vom 1. bis 3. Oktober 2021 um die “Deutung von religiöser Erfahrung in Lebenswelt, Theologie und Naturwissenschaften” – so der Untertitel. Sind religiöse Erfahrungen eigentlich großen MystikerInnen vorbehalten oder kann auch in einer „kleinen“ Mystik die außergewöhnliche Tiefendimension unserer alltäglichen Lebenswelt aufscheinen? Im säkularen Umfeld wird das Außergewöhnliche wiederum gern durch naturwissenschaftliche Erklärbarkeit auf das Gewöhnliche reduziert, gar auf die Protoreligiosität von Tieren ausgeweitet. Was also macht eine religiöse Erfahrung aus?

Prof. Dr. Tobias Müller eröffnet die RSNG-Konferenz
In einer modernen Welt scheint die religiöse Erfahrung von vornherein unter Verdacht zu stehen. Mit der durch den naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt einhergehenden Entzauberung der Welt (Max Weber) werden Selbst- und Weltdeutungen des Menschen immer stärker säkular, so dass religiöse Deutungen immer mehr an Selbstverständlichkeit und Bedeutung verlieren. Dennoch machen Menschen auch in der heutigen Welt existentielle Erfahrungen, welche die Kategorien unseres Alltags hinterfragen oder gar transzendieren. Anlass können Momente großer existentieller Dichte sein, in denen intensiv Freude und Glück, das Schöne und Erhabene, aber auch Leid und Tod erfahren werden und eine religiöse Deutung nahelegen. Auch in den populärer werdenden Kontemplationen und Meditationen können Grenzen des Alltäglichen durchbrochen und neue Selbstdeutungen evoziert werden, in denen sich das begrenzte Selbst in einem übergeordneten (göttlichen) Zusammenhang erfährt.
In der säkularisierten Moderne provozieren diese Erfahrungen zwangsläufig eine Reihe von Fragen: In welchem Verhältnis stehen die verschiedenen Erfahrungsarten? Was macht eine Erfahrung zu einer religiösen? Wie verhalten sich naturwissenschaftlichtechnische Erfahrungen zu solchen Transzendenzerfahrungen? Welche Rolle können diese Erfahrungen für eine mögliche theologische Deutung spielen? Entlarven neurowissenschaftliche Erkenntnisse diese Erfahrungen als Illusion des Gehirns? Oder geben diese Transzendenzerfahrungen einen Blick in die Tiefendimension der Wirklichkeit preis, von denen die Naturwissenschaften nur einen bestimmten Aspekt erfassen können?
Als Jahrestagung des Religion and Science Network Germany (RSNG) zielt die Veranstaltung neben der Diskussion des thematischen Schwerpunkts auf die Vorstellung neuer interdisziplinärer Projekte im Dialogfeld von Naturwissenschaft, Philosophie, Theologie, sowie auf die Vernetzung von (Nachwuchs-)Wissenschaftlern. Auch in diesem Jahr gab es zahlreiche Projektvorstellungen auf akademisch hohem Niveau.

Dr. Daniel Saudek stellt sein Habilitationsprojekt vor: “Zeit: real, aber nur lokal”
Zu einer echten Vernetzungstagung gehört natürlich auch der informelle Rahmen. Das Tagungszentrum Stuttgart-Hohenheim bemüht sich auch in Corona-Zeiten um Begegnungsmöglichkeiten und Gastlichkeit.

Sektempfang für den frisch gebackenen Professor: Alles Gute für Tobias Müller!
(vlnr: Hans-Dieter Mutschler, Tobias Müller, Heinz-Hermann Peitz)
Die Dokumentation v. a. der Projektdarstellungen wird noch vervollständigt.
Veranstalter und Förderer
Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Zusammenarbeit mit der Universität Rostock (Professur für Religionsphilosophie und Fundamentaltheologie).
Dank Sondermitteln der Akademie und Zuschüssen der NoMaNiStiftung Köln ist die Teilnahme für Nachwuchswissenschaftler und Studierende kostenlos.
Beiträge der Tagung (inkl. Link zu den Projektvorstellungen)
Unter dem Titel "Erfahrung und Transzendenz" ging es vom 1. bis 3. Oktober 2021 um die "Deutung von religiöser Erfahrung in Lebenswelt, Theologie und Naturwissenschaften" - so der Untertitel. Die Dokumentation des Kongresses im Rahmen des "Religion and Science Network Germany" (RSNG) enthält die Hauptvorträge und die Projektvorstellungen.
Tobias Müller hat sich als Aufgabe des Eröffnungsvortrags vorgenommen, zwei große Container Begriffe begrifflich zu präzisieren, nämlich "Religion" und "Erfahrung". Dabei dürfe man die Erfahrung nicht auf bestimmte Erlebnisse beschränken. Es könne sich hierbei um außergewöhnliche mystische Erlebnisse, aber auch um die von Whitehead erwähnte Resonanzerfahrung handeln.
2021 publizierte der Systematische Theologe Matthias Haudel ein umfassendes interdisziplinäres Handbuch: "Theologie und Naturwissenschaft". Dass auch das Thema der diesjährigen Tagung dort ausführlich behandelt wird, war Anlass genug, den Autor zu einer Buchvorstellung mit thematischem Schwerpunkt einzuladen.
Mutschler möchte zunächst einmal die Diskontinuität zwischen Spiritualität und Wissenschaft deutlich herausarbeiten. So stehe eine naturwissenschaftliche Weltbeschreibung für eine objektivierende Beobachterperspektive. Ganz anders die Kontemplation, die eher für die subjektive Betroffenheitsperspektive stehe. Der Wunsch nach Vereinbarkeit finde nicht immer eine glatte Lösung. Gerade der gläubige Mensch zeichne sich dadurch aus, Unvereinbares einfach stehen lassen und erdulden zu können.
Gabriele Stotz-Ingenlath reflektiert über Religiöse Erfahrung aus psychiatrischer Sicht. Neben der Pathologie der religiösen Erfahrung kommt auch die religiöse Erfahrung als psychosoziale Ressource in den Blick.
Das Thema der Nahtoderfahrung stellt nicht nur für die Naturwissenschaften, sondern auch für die Theologie eine Herausforderung dar. Prof. Dr. Enno Edzard Popkes griff diese Spannung in seinem Vortrag „Nahtoderfahrung und ihre Bedeutung für die Theologie“ auf und zeigte die Beziehungen zwischen den nachösterlichen Berichten über den auferstandenen Jesus und Nahtoderfahrungen.
Auch in diesem Jahr gab es zahlreiche Projektvorstellungen auf akademisch hohem Niveau. Wie üblich stellt die Auswahl zunächst Projekte vor, die dem Schwerpunkt “Erfahrung und Transzendenz” zuzuordnen sind, es folgen Projekte mit anderen interdisziplinären Fragestellungen.