Was ist eigentlich eine religiöse Erfahrung?

von Tobias Müller

Tobias Müller

Tobias Müller hat sich als Aufgabe des Eröffnungsvortrags vorgenommen, zwei große Container Begriffe begrifflich zu präzisieren, in denen vieles gesammelt wird, nämlich “Religion” und “Erfahrung”. Müller konturiert dabei begriffliche Grundmerkmale in Richtung von Minimalbestimmungen.

    Auch in der säkular geprägten Welt machen Menschen existentielle Erfahrungen, welche die Kategorien des Alltags hinterfragen oder gar transzendieren. Diese Suche nach solchen Erfahrungen scheint im Moment besonders in der westlichen Welt Hochkonjunktur zu haben. So haben immer mehr konfessionelle Exerzitienhäuser, traditionelle Einrichtungen östlicher Traditionen und transkonfessionelle Meditations- und Kontemplationszentren großen Zulauf. So scheint es für Müller, als ob Karl Rahners Vorhersage von 1965 mit Blick auf eine zukünftige christliche Frömmigkeit heute auch für eine Vielzahl von christlichen Gläubigen bzw. spirituell Suchenden bleibende Geltung besäße.

    “Um in diesem Sinn der kargen Frömmigkeit den Mut eines unmittelbaren Verhältnisses zum unsagbaren Gott zu haben und auch den Mut, dessen schweigende Selbstmitteilung als das wahre Geheimnis des eigenen Daseins anzunehmen, dazu bedarf es freilich mehr als einer rationalen Stellungnahme zur theoretischen Gottesfrage und einer bloß doktrinären Entgegennahme der christlichen Lehre. Es bedarf einer Mystagogie in die religiöse Erfahrung, von der ja viele meinen, sie könnten sie nicht in sich entdecken, einer Mystagogie, die so vermittelt werden muss, dass einer sein eigener Mystagoge werden kann.

    Nur um deutlich zu machen, was gemeint ist, und im Wissen um die Belastung des Begriffs „Mystik“ … könnte man sagen: Der Fromme von morgen wird ein „Mystiker“ sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.” (Karl Rahner)

    Hier klingt für Müller schon eine wichtige Funktion der religiösen Erfahrung an: Für einen lebendigen religiösen Glauben genügt nicht eine rein abstrakte Reflexion oder die Übernahme einer autoritär vermittelten Wahrheit. Soll der religiöse Glaube eine lebendige Option für den Menschen sein, wird die Resonanz des eigenen Glaubens mit den religiösen Wahrheiten (und damit auch mit den vergangenen religiösen Erfahrungen anderer, die diesen eben zugrunde liegen) durch die eigene Erfahrung hergestellt.

    Eine ähnliche Stelle finde sich in der Religionstheorie des Philosophen, Physikers und Mathematikers Whitehead, der die Funktion von Glaubenssätzen (gewissermaßen als begrifflich gefasste Erfahrung) eben darin sieht, eine Resonanz im Individuum zu evozieren.

    Dabei dürfe man – so Müller gegen Ende des Vortrags – nicht vorschnell die Erfahrung auf bestimmte Erlebnisse beschränken. Gemeint sind Erfahrungen, die dem Subjekt Sachverhalte erschließen, in denen das Moment der radikalen Endlichkeit überschritten wird. Es könne sich hierbei um außergewöhnliche mystische Erlebnisse, aber auch um die von Whitehead erwähnte Resonanzerfahrung handeln, bei der auch über die denkerische Einordnung eine Stimmigkeit des Glaubens und eine Stimmigkeit mit anderen Erfahrungen eine wichtige Rolle spielt. Auch andere Charakteristika des allgemeinen Erfahrungsbegriffs werden auf die religiöse Erfahrung übertragen und diese dann in der Lebenswelt verankert. Das macht auch die religiöse Erfahrung durch eine entsprechend methodische Reflexion anschlussfähig an andere Erfahrungskontexte.

    Beiträge der Tagung (inkl. Link zu den Projektvorstellungen)

    Unter dem Titel "Erfahrung und Transzendenz" ging es vom 1. bis 3. Oktober 2021 um die "Deutung von religiöser Erfahrung in Lebenswelt, Theologie und Naturwissenschaften" - so der Untertitel. Die Dokumentation des Kongresses im Rahmen des "Religion and Science Network Germany" (RSNG) enthält die Hauptvorträge und die Projektvorstellungen.

    Mutschler möchte zunächst einmal die Diskontinuität zwischen Spiritualität und Wissenschaft deutlich herausarbeiten. So stehe eine naturwissenschaftliche Weltbeschreibung für eine objektivierende Beobachterperspektive. Ganz anders die Kontemplation, die eher für die subjektive Betroffenheitsperspektive stehe. Der Wunsch nach Vereinbarkeit finde nicht immer eine glatte Lösung. Gerade der gläubige Mensch zeichne sich dadurch aus, Unvereinbares einfach stehen lassen und erdulden zu können.

    Das Thema der Nahtoderfahrung stellt nicht nur für die Naturwissenschaften, sondern auch für die Theologie eine Herausforderung dar. Prof. Dr. Enno Edzard Popkes griff diese Spannung in seinem Vortrag „Nahtoderfahrung und ihre Bedeutung für die Theologie“ auf und zeigte die Beziehungen zwischen den nachösterlichen Berichten über den auferstandenen Jesus und Nahtoderfahrungen.

    Auch in diesem Jahr gab es zahlreiche Projektvorstellungen auf akademisch hohem Niveau. Wie üblich stellt die Auswahl zunächst Projekte vor, die dem Schwerpunkt “Erfahrung und Transzendenz” zuzuordnen sind, es folgen Projekte mit anderen interdisziplinären Fragestellungen.