Meisinger: Liebesgebot und Altruismus

von Michael Blume

Michael Blume
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Liebesgebot und Altruismusforschung – Ein exegetischer Beitrag zum Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft Book Cover Liebesgebot und Altruismusforschung – Ein exegetischer Beitrag zum Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft
Heinz-Hermann Peitz (Hrsg.)
Academic Press Fribourg
1996
320 S.

Nach dem “Exotheologie”-Schmuckstück von Heinz-Hermann Peitz bin ich auf ein zweites Kleinod gestoßen, diesmal aus dem Bereich evangelischer Theologie.


Der evangelische Theologe Hubert Meisinger stellte Forschungsergebnisse und Begriffsdebatten je zur biblischen Nächstenliebe und zum soziobiologischen Konzept des Altruismus nebeneinander – und wurde erstaunlich vielfältig fündig. Sein Buch profitiert davon, dass er sowohl im theologischen wie (sozio)biologischen Duktus “sattelfest” ist, was sein Buch auch zu einem kleinen Nachschlagewerk und einer Zitatenfundgrube macht. Meisingers Brücke hat feste Pfeiler an beiden Ufern.

Abgesehen davon, dass es schon für sich interessant ist, der Entwicklung des Liebesgebotes in der Bibel nachzuspüren ist es vor allem verblüffend zu sehen, wie manche soziobiologische Diskussion an bereits vorhandenen Erkenntnissen und Erfahrungen vorbeigeht, die in den Geistes- und Kulturwissenschaften bereitlägen.

Um nur einige Kernfragen, die sich bei der Lektüre Meisingers praktisch sofort ergeben, beispielhaft zu nennen:

– Was ist Nächstenliebe / Altruismus? Gibt es diese überhaupt, insofern der Handelnde bewusst oder unbewusst eigene Vorteile (Himmelreich, genetische Fitness) erringt? Ab wann sind Liebe und Altruismus “wirklich sie selbst” – und ab wann nur (noch) Strategievariante?

– Ist Elternliebe Liebe / Altruismus?
Die Theologie hat dies klassisch anerkannt, aus soziobiologischer Sicht wurde jedoch gerne vom “Gen-Egoismus” gesprochen. Die menschliche Demografie hat die Soziobiologie damit verfehlt.

– Überfordern uns Liebesgebote? Und was ist dann vom dawkinschen Plädoyer zu halten, der “Tyrannei der Replikatoren” zugunsten eines “wahren Altruismus” zu entsagen?

– Wenn sich in der Evolution Formen der Kooperation und des Altruismus entfalten, ja immer neue Schwellen überschreiten – ist damit nicht eine erstaunliche Konvergenz biologischer Beobachtungen und religiöser Hoffnungen beschrieben?

Zumal Meisinger noch einige (damals) neuere, christlich-naturalistische Denker rezipiert, erweist sich das (allerdings sehr teuere) Buch als ein anregender Lesegenuss – mit einer Einschränkung:

Dem Leser wird gerade durch die Qualität des Buches deutlich, wie sehr große Teile christlicher Theologie den Dialog mit den Naturwissenschaften und besonders der Biologie (aber auch der Demografie, sogar der Kirchen selbst) verpasst haben. Nur defensiv und im übrigen nett zu sein führt jedoch auf Dauer zu den offenen Flanken, in denen atheistische Fundamentalisten wie Richard Dawkins einfallen können.

Meisingers Buch ist schon etwas älter. Dass es immer noch wenig rezipiert ist, deutet darauf hin, dass das Ausmaß der “soziobiologischen Herausforderung” den meisten Theologen noch immer nicht gegenwärtig ist. Dabei zeichnet sich immer deutlicher ab: einer Diskussion über den Zusammenhang von Religion und Evolution wird auf Dauer kaum eine seriöse Kirche ausweichen können. Meisinger hat sowohl naturwissenschaftlich wie theologisch seriös “vorausgedacht”. Bravo!


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