Leben im Anthropozän – Rückblick auf ein Philosophiefestival

von grenzfragen

Es war eine ausgesprochen gute Idee vom Verein “Philosophie in den Allgäuer Alpen e.V.” das Thema “Mensch und Natur im 21. Jahrhundert” im herrlichen Ambiente von Oberstdorf und Kleinwalsertal wirken zu lassen. Das Plädoyer eines Referenten für ein emotionales Naturverständnis hatte damit einen unmittelbaren Sitz im Leben.

Tagungsort Kleinwalsertal

Der Mensch bildet einen Einschnitt in die Erdgeschichte

Der Untertitel des Philosophie-Festivals “Leben im Anthropozän” greift die Bemühungen auf, wegen der einschneidenden menschlichen Einflüsse auf unsere Bio- und Geosphäre eine neue erdgeschichtliche Epoche auszurufen: das Anthropozän. Dies wäre ein deutlicher Imperativ, auf die komplexen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur und deren nachhaltige Gestaltung einen neuen systemischen Blick zu werfen, so der Geologe und Paläontologe Reinhold Leinfelder, führender deutscher und internationaler Anthropozän-Protoagonist.

Leinfelder: “Wir sollten eher von ‘Unswelt’ als von ‘Umwelt’ sprechen.”

Die Angst der Tiere als Innenseite des Anthropozäns

Ist die chronische Angst der Wildtiere vor dem Menschen die Innenseite des Anthropozäns, wie der Veranstaltungsflyer es ausdrückt? Der Philosoph Jens Soentgen jedenfalls nimmt die Angst der Tiere, die sich über Lernen, aber auch genetisch manifestiert habe, ernst. Er plädiert für eine hermeneutische Naturwissenschaft sowie ein einfühlsames und emotionales Naturverhältnis. Sich in Tiere verstehend hineinzuversetzen und mit ihnen empathisch umzugehen sei durchaus nicht unmöglich (allen Bedenken eines Thomas Nagel zum Trotz; hhp).

Thomas Nagel; Foto von Jmd442 – http://en.wikipedia.org/wiki/Image: Thomas_Nagel_teaching_Ethics.JPG, CC BY-SA 3.0

Unsere eigene Erfahrung liefert die grundlegenden Bestandteile für unsere Phantasie, deren Spielräume deswegen beschränkt ist. Es wird nicht helfen sich vorzustellen, dass man Flughäute an den Armen hätte, die einen befähigten, bei Einbruch der Dunkelheit … herumzufliegen, während man mit dem Mund Insekten finge; dass man … die Umwelt mit einem Systen reflektierter akustischer Signale aus Hichfrequenzbereichen wahrnähme; und dass man den Tag an den Füßen nach unten hängend in einer Dachkammer verbrächte. Insoweeit ich mir dies vorstellen kann (was nicht sehr weit ist), sagt es mir nur, wie es für mich wäre, mich so zu verhalten, wie sich eine Fledermaus verhält. Das aber ist nicht die Frage. Ich möchte wissen, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein. (Thomas Nagel, Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? In: Analytische Philosophie des Geistes, hg. v. Peter Bieri, 2. Aufl. Bodenheim 1993, 261-275, 264)

Auch der Einwand, man bevorzuge allzu leicht Arten, “charismatic species”, die den eigenen Vorlieben anthropomorph entsprächen, seien kein echtes Gegenargument: Sich im Schutz beispielsweise von Walen und Affen einzuüben, sei besser als nichts, ein guter Anfang allemal.

Jens Soentgens engagiertes Plädoyer für ein emotionaleres Naturverhältnis hätte durch das Bergpanorama im Hintergrund prima unterstützt werden können. Die Panoramakarte on top lässt erahnen, was uns hier auf dem umnebelten Fellhorngipfel entgeht.

Vom Anthropozän zur Künstlichen Intelligenz

Die Epochenbezeichnung “Anthropozän” hat sich noch nicht offiziell etabliert geschweige denn wirkungsvoll ins verantwortliche Handeln des Menschen umgesetzt, da steht das autonome Handeln auch schon in Frage und die nächste Epoche am Start, das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz (KI). Wird dies demnächst mehr das Schicksal unseres Planeten bestimmen als uns lieb ist? So stellt der Wissenschafts- und Techniktheoretiker Klaus Mainzer in Buchtitel und Vortrag die Frage: “Wann übernehmen die Maschinen?” Damit unsere Autonomie nicht gefährdet wird und die technische Entwicklung um KI aus dem Ruder läuft, mahnt Mainzer nicht nur Technikfolgenabschätzung, sondern dringend Technikgestaltung an.

Mainzer: “Ethik sollte nicht als Innovationsbremse missverstanden werden.”

Zu dieser Gestaltung gehöre es essenziell, das europäische Erbe der Menschenwürde und der Urteilskraft im globalen Wettstreit der Wertesysteme wirkungsvoll zu positionieren. Konkurrent sei dabei nicht nur der Utilitarismus US-amerikanischer Prägung, der mit seinem Nutzen-Summen-Kalkül in einem algorithmendominierten KI-Zeitalter auf fruchtbaren Boden falle. Nicht zu unterschätzen sei die konfuzianische Tugendethik asiatischen Stils, die nicht das Individuum, sondern das Gemeinwohl an erster Stelle sehe. Die zum Wohle der Allgemeinheit mit KI und Big Data erhobene totale Überwachung, Erfassung und Bewertung des Sozialverhaltens der Individuen durch Social Scores möge im Westen Entsetzen auslösen, falle jedoch in Asien auf einen ganz anderen Resonanzboden. Die Schlüsselfrage sei, ob sich eine KI-Offensive mit utilitaristischer oder konfuzianischer Ethik gegen ein europäisches Wertesystem durchsetzt, in der KI als Dienstleistung individueller Freiheitsrechte verstanden werde.

Atmosphärischer Höhepunkt

Ein vorläufiger Abschluss des Philosophie-Festivals fand mit dem philosophischen Hüttenabend auf der Sonna-Alp statt. Ein letztes Mal gab es Gelegenheit, den Thesen der Referenten mit Nachfragen auf den Grund zu gehen; mehrere Arbeitsgruppen machten davon reichlich Gebrauch. Zusammen mit regionalen Speisen und Getränken, nicht zuletzt mit der Talfahrt der Sesselbahn im letzten Tageslicht war dies der atmosphärische Höhepunkt.

Philosophischer Hüttenabend auf der Sonna-Alp: “Reflektiertes Mensch-Sein im Anthropozän”

Dramaturgischer Höhepunkt: Verleihung des “Meckatzer-Philosophie-Preises”

Die Tagungsdramaturgie gipfelte in der Verleihung des “Meckatzer-Philosophie-Preises” 2019 an Gernot Böhme “für das herausragende Gesamt- und Lebenswerk im Bereich der Philosophie”

Übergabe des mit 5000 € dotierten Preises durch Michael Weiß, geschäftsführender Gesellschafter Meckatzer Löwenbräu, an Gernot Böhme (rechts)

Der Titel des Festvortrags, “Leib: Natur, die wir selbst sind”, ist für Gernot Böhme Programm. Einerseits drückt der Titel aus, dass wir uns als Natur gegeben sind, andererseits meint das Selbstsein Aktivität, Gestaltung und Verantwortung. Für Böhme kennen wir Natur nicht nur als etwas Äußerliches (“die Natur da draußen”), sondern auch von innen heraus, aus unserer Selbsterfahrung. Anders als bei der im Naturdiskurs oft gehörten Kategorie des Mitseins gehe es vielmehr um die Kategorie des Inseins. Es sei ernst zu nehmen, dass der Mensch in seiner Natürlichkeit in der Natur ist. In unserer Naturerfahrung erführen wir uns als in einer Umgebung anwesend; erführen wir, in welcher Umgebung wir uns befinden. Wir betrachteten “Landschaft” nicht von außen, sondern spürten, wie es sich anfühlt, in dieser Landschaft zu sein. Die Betrachtung eines Bildes oder Fotos könne eine solche Erfahrung nicht vermitteln. Es gehe um eine Praxis, die auch in zentralen Lebensvollzügen wie Atmen, Sich-Ernähren, aber auch bei medizinisch-therapeutischen Eingriffen einzuüben sei.

Gernot Böhme: “Die entscheidenden Kategorien der ökologischen Ästhetik … sind In-sein und Leib.” (Die Natur, die wir selbst sind, Berlin 2019, 182)

Fazit

Dem Organisations- und Veranstalterteam, v. a. Stefanie Fuchs und Tabea Dillmann von der Agentur FUCHS PR & CONSULTING, sowie Dr. Thomas Heichele, der für die inhaltliche Vorbereitung und die Tagungsmoderation zuständig war, kann man ein äußerst gelungenes Philosophiefestival bescheinigen.

Gute Zusammenarbeit zwischen Stefanie Fuchs und ihrem Netzwerk, Tabea Dillmann und ihrer omnipräsenten Betreuung, sowie Thomas Heichele und seiner inhaltlich kompetenten Vorbereitung und Durchführung

Text und Veranstaltungsfotos: Heinz-Hermann Peitz