- Vogelsang: Identität in einer offenen Wirklichkeit - 24. Juli 2015

Freiburg, München : Alber
2014
352
In der Moderne kommt der Frage nach der Identität eine besondere Bedeutung zu. Antworten auf die Frage »Wer bin ich?« sind immer weniger durch kulturelle Traditionen geprägt. Dieser Verlust kann philosophisch als Gewinn gedeutet werden, wenn er den Blick für unsere menschliche Situation öffnet. Der gegenwärtig populäre Ansatz beim Individuum als Ausgangspunkt für die Frage nach der Identität verkennt jedoch die Bedingungen der leiblichen Existenz. Arbeiten von Merleau-Ponty und Waldenfels zeigen, dass wir als leibliche Wesen immer schon auf die Wirklichkeit, die uns umgibt, und auf die Anderen, die mit uns leben, ausgerichtet und mit ihnen verbunden sind. Identität erweist sich so als verflochten in eine Dynamik, die immer auch über sie hinaus geht. Nie sind wir ganz bei uns selbst, Eigenes und Fremdes lassen sich nicht trennen. Die phänomenologische Analyse legt dar, dass Verbundenheit ebenso zu unserer Identität gehört wie Getrenntsein. Identität in einer offenen Wirklichkeit zeigt sich in unterschiedlichen Spuren, die je ihre eigene Qualität, Stärke und Begrenzung haben, sie zeigt sich als Verflechtung, als narrative Identität, als Individualität. Die Studie zeichnet diese Spuren nach.
In der Besprechung sind die Hauptthesen des Buches zusammengefasst. In einem Interview vertieft der Autor seine Position: Identität in einer offenen Wirklichkeit zeigt sich in unterschiedlichen Spuren, die je ihre eigene Qualität, Stärke und Begrenzung haben, sie zeigt sich als Verflechtung, als narrative Identität, als Individualität.
Interview mit dem Autor
Übersicht über die Hauptthesen
1. Am Anfang der Untersuchung steht die einfache Frage: „Wer bin ich?“ Doch diese Frage klingt nur einfach, tatsächlich hat sie viele Untiefen. So ist es nicht ganz klar, wie das Ich zuzuordnen ist: Ist das Ich der Fragende oder das, wonach gefragt wird? Irgendwie gehört das Ich zugleich auf beide Seiten. Eine andere Schwierigkeit: Wenn man diese Frage stellt, dann tut man das von einem bestimmten Ort aus, aus einer bestimmten Situation heraus. Dann aber ist man ja eigentlich schon „wer“, das heißt, die Antwort ist schon in gewisser Weise Voraussetzung der Frage. Zugleich aber ist die Frage tatsächlich offen: Obwohl ich von mir weiß, obwohl ich in vieler Hinsicht mir bekannt bin, gibt es das Bedürfnis, die Frage zu stellen. Das zeigt, dass die bekannten Antworten nicht genügen. Diese ersten Beobachtungen zu der Frage allein legen die Vermutung nah, dass wir nicht erwarten können, auch nicht mit philosophischer Anstrengung, die eine vollgültige Antwort zu erhalten. Jedoch sind auch nicht beliebige Antworten möglich. Die Philosophie hat die Aufgabe, die unterschiedlichen Antworten in ihrer jeweiligen Stärke und in ihrer Begrenzung zu sichten.
2. Die grundlegende These des Buches ist: Entgegen der heute verbreiteten Meinung ist das Ich, das fragt und nach dem gefragt wird, zunächst einmal keine abgegrenzte Entität, sondern hat gerade darin seine Identität, dass es mit Anderen und mit der Welt verbunden ist. Das Buch untersucht die Frage mit phänomenologischen Methoden und folgt dabei den Ansätzen von Maurice Merleau-Ponty und Bernhard Waldenfels. Das, was in unserem Alltagsverständnis allein plausibel zu sein scheint: „Ich stecke in meinem Körper und Du steckst in Deinem Körper“, erweist tatsächlich eine Verkürzung. Die beiden Autoren versuchen dagegen unsere Situation mit dem Begriff der Zwischenleiblichkeit zu fassen. Dazu zwei Beobachtungen, die die Zwischenleiblichkeit plausibel machen können: Die Fähigkeit des Menschen, sich als Individuum zu erfahren, entwickelt sich sowohl in der Menschheitsgeschichte wie auch in der Individualgeschichte erst recht spät. Noch einige Zeit nach der Geburt werden die Welt und die Nächsten in einer fundamentalen Verbundenheit erlebt. Es setzt eine Vielzahl von Kulturtechniken voraus, um sagen zu können: „Ich bin ein Individuum!“ So nutzen wir, auch wenn wir uns als Individuen verstehen, notwendigerweise die Sprache, um uns unserer selbst zu versichern. Doch die Sprache ist gerade nicht einfach unser Vermögen, sondern verweist zurück auf unsere Verbundenheit mit anderen, mit denen wir sie teilen.
3. Es kommt also entscheidend darauf an, wie man die Untersuchung der Frage „Wer bin ich?“ beginnt, damit man nicht mögliche Antworten von Beginn an blockiert. Wenn man beim getrennten Individuum beginnt, dann kann man die Verbundenheit mit den anderen nicht mehr nachträglich erschließen. Der Andere kommt höchstens als Begegnender hinzu. Die Zwischenleiblichkeit dagegen ist Ausdruck einer Verbundenheit, die immer schon da ist, bevor wir uns als Individuen verstehen können.
Wenn man nun mit der phänomenologischen Methode vorsichtig nach möglichen Antworten sucht, ohne allzu schnell bestimmte Annahmen über die Welt oder sich selbst vorzugeben, dann zeichnen sich unterschiedliche Antworttypen ab, die je für sich eine gewisse Gültigkeit haben, die aber unter ganz unterschiedlichen Bedingungen erscheinen und deshalb auch nicht zu einer Gesamtantwort kombiniert werden können.
4. Ein erster Antworttypus zeigt uns so, dass wir zu uns selbst kommen, indem wir uns gerade verlieren. Hier zeigt sich die ursprüngliche Verflechtung mit der Welt und dem Anderen. Hierzu gehören Erfahrungen der Liebe, der Naturmystik, der Ekstase etwa bei Musik, religiöse Erlebnisse. Menschen, die entsprechende Erfahrungen machen, beschreiben diese Erfahrungen gerade so, dass sie sich verlieren, in ein größeres Ganzes (die Natur und ich sind eins), in einen anderen Menschen (dieser andere Mensch und ich sind eins) oder in Gott (nicht ich, sondern Gott in mir). Zugleich aber werden diese Erfahrungen als extrem starke Bestätigung der eigenen Person und als Erfüllung empfunden. Diese Erfahrungen können aber nicht hergestellt oder sichergestellt werden, sie sind in der Regel auch nur von kurzer Dauer.
5. Der zweite Antworttypus ist der wohl häufigste im Alltag. Wenn ich jemanden sagen möchte, wer ich bin, dann fange ich an zu erzählen. Ich sage, wo ich aufgewachsen bin, wer meine Eltern waren, was ich erlebt habe, welche Schicksalsschläge ich durchgemacht habe, welche Erfolge ich hatte. Die Erzählung ist eine besondere Weise, in der sich die eigene Identität zeigen kann. Gegenüber der Verflechtung kann man sich hier auf Ordnungen beziehen, etwa die historischen Ereignisse der eigenen Biographie. Doch ist die Ordnung nur relativ: Keine Erzählung, keine Biographie ist endgültig, umfassend oder eindeutig. Immer gibt es auch fiktive Teile, ich lasse etwas weg oder setze etwas hinzu. Dies sind aber keine Mängel, sondern notwendige Eigenschaften dieses Antworttypus! Es gibt dahinter nicht das eigentliche Ich, das objektiv und für alle gleich existieren würde. Die philosophische Analyse kann zeigen, dass die Erzählung eigenständig ist und eine eigene Dimension meiner Existenz, die historische nämlich, erschließt. Auch in der Erzählung zeigt sich ein Ich, das nicht isoliert existiert, sondern in einer Erzählgemeinschaft, ein Ich, das immer schon mit bestimmten anderen Menschen verbunden ist, sein Leben teilt, bestimmten kulturellen, weltanschaulichen Einflüssen ausgesetzt ist.
6. Schließlich ist der dritte Antworttypus der in unserer Gesellschaft vorherrschende. Ich bin ich, weil ich ein Individuum bin, ich bin anders als andere. Das zeigt sich am leichtesten an biometrischen Daten. Mein Chromosom ist anders als alle anderen. Die Antworten auf die Frage „Wer bin ich?“ sind hier also viel eindeutiger als bei den beiden vorhergehenden. Hier sind die Ordnungen, auf die hin die Identität bestimmt wird, am größten. Doch zugleich erfahren wir diese Antworten nicht wirklich als vollgültige Antworten. Wer schon gibt sich zufrieden, wenn er oder sie sich der Frage nach der eigenen Identität stellt, wenn man ihm oder ihr eine DNA-Analyse vorzeigt? Und doch hat auch diese Antwort eine Berechtigung und eine wichtige Rolle, die sich etwa zeigt, wenn es um Individualrechte geht (sexuelle oder religiöse Selbstbestimmung) oder wenn es um die Wichtigkeit des eigenen Körpers geht. Jedoch darf man diese Fähigkeit der Abgrenzung nicht zur Voraussetzung für alle Antworten auf die Frage „Wer bin ich?“ erheben.
Siehe auch die Rezension von Andreas Losch