Ist der Mensch noch frei?

von Gottfried Kleinschmidt

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Ist der Mensch noch frei?: Wie die Hirnforschung unser Menschenbild verändert Book Cover Ist der Mensch noch frei?: Wie die Hirnforschung unser Menschenbild verändert
Martin Hubert
Patmos-Verlag der Schwabenverlag AG
15. August 2006
240 S.

Martin Hubert

Ist der Mensch noch frei? Wie die Hirnforschung unser Menschenbild verändert

Walter-Verlag 2006. 240 S.

ISBN-13: 9783530422061
ISBN-10: 3530422061

Eur 18,00

 

Rezension v. Gottfried Kleinschmidt

“Der Zellenhimmel des Gehirns” (der sich unter unserer Schädeldecke befindet) ist immer noch ein Geheimnis und voller Rätsel wie der Sternenhimmel über uns und der Kosmos, in dem wir leben. Der Autor spricht oft und in unterschiedlichen Zusammenhängen von diesem “Zellenhimmel der Neuronen unter unserer Schädeldecke”. Jedes der sechs Kapitel steht mit einer zentralen Frage in Verbindung:

  • Welche Menschenbilder ergeben sich aus den Ergebnissen der Hirnforschung?
  • Wie rational und emotional ist unser Gehirn?
  • Wie funktioniert das bewusste und das unbewusste Gehirn?
  • Welches “Ich” favorisiert das Gehirn?
  • Wie sozial ist das menschliche Gehirn?
  • Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Freiheit, Gewissen und Gehirn (Perspektiven einer “Verantwortungsethik”)?
  • Am Schluss steht die offene Frage: “Gehirn oder Seele?”

 

Die Antwort auf die Titelfrage lautet: Ja, der Mensch ist immer noch frei! Zu diesem Ergebnis kommen auch D.B. Linke (vgl. “Die Freiheit und das Gehirn” Rowohlt, Okt. 2006) und der amerikanische Philosoph J.R. Searle in seiner neuen “Philosophie des Geistes” (Frankfurt, 2006). Er spricht von einem gewaltigen Fall menschlichen Unwissens und meint wörtlich: “Wir wissen wirklich nicht, wie genau freier Wille im Gehirn existiert, falls er überhaupt existiert… Wir wissen kurz gesagt, nicht, wie freier Wille möglicherweise funktionieren könnte. Wir wissen aber auch, dass wir der Überzeugung von unserer eigenen Freiheit nicht entkommen können. WIR KÖNNEN NUR HANDELN, WENN WIR FREIHEIT VORAUSSETZEN”. Das Wissen des Nichtwissens und das Eingeständnis einer Wissensgrenze gehören für J.R. Searle zur Demut der Wissenschaftler und der Wissenschaft.

M. Hubert hat zur Beantwortung der sechs Kernfragen Neurowissenschaftler, Kognitionsforscher, Philosophen und Psychologen interviewt und befragt. Er kommentiert und interpretiert die Fallbeispiele und Interviews, stellt Experimente vor und referiert über Theorien, Modelle und Konstrukte. Plakativ stellt er als Wissenschaftsjournalist folgendes fest: “Es klingt so neuronal wie genial: Das listige Gehirn und die listige Gesellschaft erzeugen gemeinsam die Illusion der Freiheit, weil sie etwas davon haben”. Jedoch hat diese Deutung “der Illusion der Freiheit” vier Haken! An dieser Stelle kann auf zwei interessante Werke hingewiesen werden. J.C. Eccles hat sich in seinem Buch “Gehirn und Seele – Erkenntnisse der Neurophysiologie” (München 1987) auch mit philosophischen Fragen beschäftigt und diese im Dialog mit K. Popper in dem Buch “Das Ich und sein Gehirn” (München, 1989) aus philosophischer und neuronaler Sicht weiter vertieft.

Für die Zukunft des Menschen kommt es entscheidend darauf an, dass “Herzensbildung” und “intellektuelle Bildung”, Emotionalität und Rationalität in ein neues wechselseitiges Gleichgewicht kommen. Die Dominanz der “instrumentellen Vernunft” führt leicht zur Destruktion der Persönlichkeit. Zur “emotionalen Intelligenz” (Daniel Goleman) gehören Selbstwahrnehmung, Selbsterkenntnis, Selbstkontrolle, Selbstdisziplin, Selbstachtung, die richtige Selbsteinschätzung, Einfühlung (Empathie) und die Kunst des Zuhörens. Aus der Sicht der Persönlichkeitsbildung kann man somit vier Komponenten hervorheben: Willensstärke, Feinfühligkeit, die Aufwühlbarkeit des “Gemütsgrundes” und die Urteilskraft. Interessant sind auch die Beziehungen zu Howard Gardners “Multipler Intelligenztheorie”. Fünf Bereiche sind aus der Perspektive der “Freiheit des Menschen” besonders wichtig: Die Selbstwahrnehmung, der Umgang mit den eigenen Gefühlen, die Empathie (als Einfühlung und Sensibilität für die Gefühle der Anderen) sowie der Umgang mit Beziehungen als Fundament der sozialen Kompetenz. Es gibt allerdings nicht nur die positiven, anregenden und hilfreichen Gefühle. Auf der anderen Seite produziert das “limbische System” auch die giftigen, vergiftenden, ja sogar mörderischen und selbstmörderischen Gefühle. Emotionen spielen nicht nur für unsere geistige und seelische Gesundheit, sondern auch für unser körperliches Wohlbefinden eine entscheidende Rolle. Diese Erkenntnis belegt M. Hubert durch einige Fallbeispiele und durch Interviews mit Psychologen. Mit der wichtigen “Grammatik der Gefühle” als Grundlage der “materialen Wertethik” hat sich insbesondere Max Scheler (dtv-München 2000) beschäftigt. Entscheidend ist sein Werk “Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik”. M. Hubert vermittelt auch einen “vierstufigen Überblick” über die “Entwicklung des Gewissens”. An dieser Stelle kann auf das dreiphasige “kognitiv-emotionale Entwicklungsmodell” der Wertentwicklung beim Menschen von Lawrence Kohlberg (Harvard University) hingewiesen werden.

Mit folgenden Zitaten kann die Position M. Huberts zusammenfassend bestimmt werden: “Wir müssen den Menschen als ein besonderes Naturschauspiel verstehen, das sich nur in kulturellen Zusammenhängen aufführen lässt” … “Wir müssen uns auf ein komplexes Wechselspiel zwischen emotionalen und rationalen Regungen, unbewussten und bewussten Kräften, ichbezogener Identitätsarbeit und sozialer Interaktion einlassen … , denn wir sind im Prinzip “offene und niemals ganz fertige Netzwerk-Seelen”.