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Am 19. April 2017 veröffentlichte die nationale Akademie der Wissenschaften, Leopoldina, unter dem Titel “Evolutionsbiologische Bildung in Schule und Hochschule” eine Grund- bis Hochschule betreffende Stellungnahme. Hierin fordert sie, der gewachsenen wissenschaftlichen wie gesellschaftlichen Bedeutung der Evolutionsbiologie auch in Schule und Hochschule deutlich besser Rechnung zu tragen, als dies bisher geschehe. Ein Kerngedanke dabei ist es, die Evolution nicht als schulisches Abschlussthema wie bisher üblich zu behandeln, sondern bis in den Primarbereich vorzuverlagern. Damit stellt die Stellungnahme wirkungsvoll die bereits gestartete Evokids-Initiative in einen breiteren schulischen und bildungspolitischen Kontext.
Im Einzelnen spricht die Leopoldina verschiedene Handlungsempfehlungen aus, wie beispielsweise:
- Langfristig (ca. 10 Jahre) soll die Evolutionsbiologie curricular und fachdidaktisch als integrativer Rahmen des Biologieunterrichts etabliert und an den Hochschulen gestärkt werden. (35)
- In den Schulen ist Evolution dabei nicht als Abschlussfach, sondern als Leitlinie des gesamten Biologieunterrichts ab Klasse 5 und integrativ in anderen Schulfächern vorzusehen. (36)
- Bereits in der Primarstufe soll das Thema Evolution angebahnt werden, wie es exemplarisch in der Evokids-Intitiative ausgearbeitet wurde. (32, 38)
- Das langfristige Ziel soll kurz- und mittelfristig durch Erarbeitung von Unterrichtsmaterialien jenseits traditioneller Schulbücher (insb. auch in elektronischen Medien) vorbereitet und flankiert werden – auch als Grundlage für spätere Überarbeitung von Lehrbüchern. (38)
- Außerschulische Maßnahmen sollen zusätzlich genutzt werden. (38)
Aus erster Hand: Vorstellung der Initiativen durch Prof. Dr. Dittmar Graf
Graf: Evolution im Unterricht. Über die Evokids- und Leopoldina-Initiative
Herausforderung für den Religionsunterricht
Als Bedrohung für den Religionsunterricht kann die Stärkung des Evolutionsgedankens nur vor dem Hintergrund des Konfliktparadigmas „Evolution ODER Schöpfung“ empfunden werden. In einem theologischerseits gebotenen „Sowohl-als-auch“-Denken ist aber eher das Gegenteil der Fall. Die Vermittlung der faszinierenden Mechanismen und Geschichte der Evolution kann zum Staunen führen, das Staunen wiederum kann Wissen und Glauben verbinden, wie dies der Religionspädagoge Rainer Oberthür in seinem „Buch vom Anfang von allem“ so eindrücklich darstellt.
Auch umgekehrt scheint die Leopoldina in Religionsunterricht und Schöpfungslehre keine Konkurrenz zu sehen, ja selbst „die Verbreitung des Kreationismus und von Theorien des Intelligent Design scheint nicht das entscheidende Hindernis bei der Verbreitung der Erkenntnisse der Evolutionsbiologie zu sein.“ (Stellungnahme 26).
Nicht ganz so entspannt sieht es die von der Leopoldina erwähnte Evokids-Initiative: „Trotz erdrückender Belege gibt es … noch immer (meist religiös begründete) Vorbehalte gegen die Evolutionstheorie“ und es sei nicht auszuschließen, „dass diese Konflikte (etwa von evangelikaler oder muslimischer Seite) ins Klassenzimmer hineingetragen werden“ (Evokids 88). Auch wenn dies zutreffen sollte: Die Konfliktlinie betrifft hier – zunächst – nicht den Religionsunterricht der Mainstream-Kirchen.
Auch das der Evokids-Initiative nahestehende Grundschulheft „Sachunterricht Weltwissen“ vom Februar 2017 sucht nicht den Konflikt: „Sowohl die römisch-katholische als auch die evangelische Kirche in Deutschland haben Positionspapiere herausgegeben, in denen deutlich gemacht wird, dass Evolution und Schöpfung harmonisch miteinander verbunden werden können“ (S. 42). Redlich ist dies insofern, als der Autor des Beitrags, Thomas Waschke, davon überzeugt ist, dass eine harmonische Verbindung gerade nicht möglich ist. Der Nachsatz „die Frage, ob das tatsächlich der Fall ist, braucht hier nicht thematisiert zu werden“ lässt Waschkes Skepsis durchblicken, verbleibt aber in der Fairness der Darstellung.
Wie auch immer: Auch jenseits eines konfliktiven Klimas wird der Religionsunterricht stärker als bisher in die Pflicht genommen. Entwicklungsspsychologisch scheint es so zu sein, dass das artifizialistische Wirklichkeitsverständnis („alles ist von jemand gemacht“) in Verbindung mit anthropomorphen Gottesvorstellungen im Kindesalter von naturalistischen Weltdeutungen im Jugendalter verdrängt wird. Damit kann eine Krise des Gottesglaubens insgesamt oder ein deistisches Gottesbild einhergehen. In diesem Zusammenhang müssen laut Julia Hoffmann die Naturwissenschaften zwar nicht zwangsläufig „als die Bedrohung für den christlichen Schöpferglauben“ angesehen werden, da durchaus Beispiele für eine gelungene Koordination der beiden Weltsichtparadigmen existierten. Diese Vereinbarung ist jedoch keinesfalls selbstverständlich, und immer noch gelten weithin naturwissenschaftliche Erkenntnisse als Widerleg für Gott. Daher fordert Hoffmann unmissverständlich: „Hier besteht die Notwendigkeit einer systematischen religionspädagogischen Förderung von Koordinationsleistungen verschiedener Weltsichtparadigmen, die mit einem angemessenen Verständnis des Wirkens Gottes in der Welt einhergeht. Findet eine solche Förderung nicht statt, so besteht die Gefahr, dass der Gottesglaube dauerhaft einbricht, wenn die Krise nicht reflektiert und religionspädagogisch aufgefangen wird“ (Hoffmann 2014, 122).
Koordination verschiedener Weltsichtparadigmen
Bei der angemahnten „Förderung von Koordinationsleistungen verschiedener Weltsichtparadigmen“ gilt es m. E. folgende Punkte zu beachten.
- Aufgrund der von der Leopoldina- und Evokids-Initiative herausgestellten umfassenden Bedeutung des Evolutionsgedankens sind die Vorschläge beider Initiativen konstruktiv-kritisch aufzugreifen und zu fördern.
- Die spezielle Aufgabe des Religionsunterrichts sehe ich darin,
- die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse offen zu halten für weltanschauliche Deutungen (welcher Richtung auch immer), da Weltanschauung nicht naturwissenschaftlich festgelegt ist;
- die Integrationsmöglichkeit in einen christlichen Deutehorizont plausibel zu machen;
- Grenzüberschreitungen theologischer, aber auch naturalistischer Art abzuwehren.
Inwieweit die beiden Initiativen Anlass geben, bei möglichen Grenzüberschreitungen wachsam zu sein, sei abschließend angedeutet.
Mögliche Grenzüberschreitungen und Konfliktpunkte
Grundsätzlich ist es begrüßenswert, dass sich beide Initiativen meiner Einschätzung nach sehr ausgewogen äußern. Selbst das von Schmidt-Salomon verfasste letzte Kapitel der Evokidsmaterialien kennt nicht mehr die von „Susi Neunmalklug erklärt die Evolution“ bekannte laute Religionskritik, wenn er nun schreibt: „Merke: Der Glaube an Gott und das Wissen über die Evolution müssen sich nicht ausschließen“ (93). Dass dennoch auf subtile Weise Religion kritisiert wird, soll noch weiter unten gezeigt werden.
Doch zunächst seien exemplarisch drei kurze statements aus der Stellungnahme der Leopoldina benannt, die zu Konflikten führen können.
- Wenn die Leopoldina im Blick auf den Menschen fragt: „Was macht seine Alleinstellung aus?“ (3), sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Evolutionsbiologie allein darauf kaum eine erschöpfende Antwort wird geben können, ohne Gefahr zu laufen, den Menschen schlicht auf einen „nackten Affen“ zu reduzieren.
- Wenn (passend zum Alleinstellungsmerkmal) ein behaupteter „Wesensunterschied zwischen Körper und Geist“ (26) als Hindernis für die Rezeption der Evolutionstheorie kritisiert wird, werden manche Anthropologen und Theologen Widerspruch anmelden.
- Wenn gesagt wird, evolutionäre Prozesse haben „keine bestimmte oder vorgegebene Richtung. Sie entwickeln sich nicht grundsätzlich vom Einfachen hin zum Komplexen“ (9), dann lauert hier der bekannte Streit um Teleologie vs. Teleonomie, um die vermeintliche oder reale Zielgerichtetheit der Natur.
Aussagen zum Menschenbild geben auch bei dem Materialheft der Evokids Anlass zum Nachfragen. Ist Evolution tatsächlich der „wohl wichtigste Bestandteil des modernen Welt- und Menschenbildes“ (Evokids 111)? Sind hier nicht Personsein, Freiheit oder Gemeinschaftsfähigkeit wichtigere Attribute des Menschseins? Wenn der Biologe einwendet, auch diese Attribute seien evolutiv geworden und (mit)bestimmt, dann ist damit die Kontroverse nicht beendet, sondern erst richtig eröffnet; man denke – auch im Blick auf die oben angeführten Punkte – an die nie endende Debatte um nature vs. nurture, oder rezenter formuliert um sex vs. gender etc.
Bei aller Nähe der Verwandtschaft des Menschen mit den Menschenaffen, ist die Aussage schlicht falsch, “dass heute nicht mehr zwischen den Menschen und den (anderen) Menschenaffen unterschieden wird” (Evokids 28). Das stimmt schon biologisch nicht, geschweige denn von der philosophischen Anthropologie her. Dass uns nur wenige Prozent der Gene vom Affen unterscheidet, mag empirisch unbestritten sein; wer daraus aber die sog. Sonderstellung des Menschen nivellieren will, begeht einen “naturalistischen Fehlschluss von quantitativer Ähnlichkeit zu qualitativer Gleichheit” (Hans Werner Ingensiep, siehe Video, Minute 59). Wer wollte ernsthaft bestreiten, dass zumindest in dem Punkt ein entscheidender Unterschied besteht, dass der Mensch die einzige Spezies ist, die Veranwortung für Um- und Mitwelt übernehmen kann – und muss!? (Siehe dazu den Beitrag von Heike Baranzke “Würde der Kreatur“).
Am ehesten jedoch wird das bereits benannte von Schmidt-Salomon verfasste Kapitel über Evolution und Religion Kritik auslösen. Nochmals sei nicht verschwiegen, dass durchaus an mehreren Stellen eine Vereinbarkeit von Glaube und Wissen zugestanden wird. Diese wird jedoch durch gegenläufige Aussagen konterkariert. So weist Schmidt-Salomon immer wieder darauf hin, dass „veraltete Formen des Glaubens“ aufgrund neueren Wissens genauso aufgegeben werden müssen wie der Glaube, „dass Gott Blitze auf die Erde schleudern würde, um die Menschen zu bestrafen“ (91). Der Glaube an Adam und Eva sei ein Beispiel dafür, dass „Menschen früher von vielem überzeugt [waren], was sich später als falsch herausgestellt hat“ (91). Erst nach Darwin sei den Menschen klar geworden, „dass die Geschichte von Adam und Eva erzählt wurde, weil sich die Menschen damals noch nicht erklären konnten, weshalb sie auf der Welt waren“ (91). Religionswissenschaftlich gesehen ist das natürlich nicht der Entstehungsgrund der Genesistexte. Der eigentliche Entstehungsgrund der Texte mag vielmehr in dem prophetisch, visionären Aufruf nach allgemeiner Gerechtigkeit liegen, wie Andreas Benk (und viele andere) dies jüngst noch einmal herausgestellt hat. Und diese Bedeutung bleibt bestehen, allen wissenschaftlichen Neuerungen zum Trotz. Über Bord zu werfen ist die Historizität von Adam und Eva, nicht ihre religiöse Bedeutung: Die Genesistexte sind „nicht Naturkunde über das Werden, sondern Urkunde über das Wesen des Menschen“ (Lüke 12).
Die Schöpfungserzählungen sind keine minderwertige Naturkunde darüber, wie die Welt und auf ihr der Mensch entstand. Die Schöpfungserzählungen sind eine hochwertige Urkunde darüber, was es mit dem Menschen auf sich hat …” (Ulrich Lüke)
Dass der Mensch als Abbild Gottes geschaffen wurde, wird ebenfalls als obsolet hingestellt: „Sie dachten, dass der Mensch ein ‚Ebenbild Gottes‘ sei und daher nicht von Affen abstammen könne“ (90). Und: „Früher dachten die Menschen auch, dass die Welt allein für sie erschaffen wurde“ (91). Denken sie nicht heute immer noch, dass die Welt – aus religiöser Perspektive – auf vernunft- und liebesfähige Wesen ausgerichtet ist?
An solchen Glaubensaussagen festzuhalten, ist für Schmidt-Salomon offenbar irrational und erinnert eher an eine Trotzreaktion: „Es gibt jedoch viele gläubige Juden, Christen und Muslime, die an ihrer Religion festhalten, obwohl sie genau wissen, dass wir Menschen nicht direkt von Gott erschaffen wurden, sondern aus der Evolution hervorgegangen sind“ (93). Hier wird Glaube gegen Wissen und Evolution gegen Schöpfung ausgespielt.
Am Ende bleibt der Eindruck: Das durchgängige Schema „früher falscher Glaube – heute sicheres Wissen“ bedient das Bild des ständigen religiösen Rückzugsgefechtes, an dessen Ende alles Glauben durch Wissen ersetzt sein wird. Dieses Bild widerspricht aber genau der Kompetenz, auf die das Kapitel eigentlich zielen will, nämlich, dass Schüler „die Unterschiede zwischen religiösen und wissenschaftlichen Argumenten verstehen“ (88).
Ein letztes Beispiel. Die Auswahl der Begriffe, die bei Schmidt-Salomon von Schülern der Welt des Glaubens und der Welt des Wissens zugeordnet werden sollen (92), ist suggestiv und verleiht der Wissenschaft nicht nur quantitatives Übergewicht (links im Bild). Wie wäre es dagegen mit den Begriffen der rechten Abbildung? (Zugegeben auch nicht frei von Suggestion 😉
Ein theologisches Gegenlesen hätte sicher dazu beigetragen, dass religiöse Menschen und Religionslehrer sich in dem Kapitel „Evolution und Religion“ besser wiederfinden und damit dem ansonsten hervorragend gemachten Materialband eine breitere Akzeptanz hätten vermitteln können – eine Akzeptanz, die man ansonsten beiden Initiativen nur wünschen kann!
Zur Ergänzung und Vertiefung
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