Die Nachtseite des Lebens

von Gottfried Kleinschmidt

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Die Nachtseite des Lebens - Eine Naturgeschichte des Bösen Book Cover Die Nachtseite des Lebens - Eine Naturgeschichte des Bösen
Lyall Watson
Frankfurt a. M. : S. Fischer Verlag
1997
399

Woher kommt das Böse? Der Biologe Lyall Watson zeigt am Beispiel farbig und eindringlich geschilderter Tierbeobachtungen, die er mit den entsprechenden Verhaltensformen des Menschen vergleicht, daß die Wurzeln des "Bösen", der Heimtücke und der nackten Gewalt in der Natur selbst liegen, im blinden Egoismus der Gene. Aber auch das moralische Verhalten des Menschen ist in der Natur verankert, und wir haben kein Recht, individuelle oder kollektive Gewaltausübung auf Naturgesetze zurückzuführen und so zu entschuldigen. "Wir sind die ersten ethischen Tiere der Welt, zwar immer noch in der Gewalt unserer Biologie, aber auch schon befähigt, uns über sie zu erheben." ...

Thematisch reicht das Werk des bekannten Biologen von der Ökologie des Bösen über die Arithmetik und Ethologie des Bösen bis zur Psychologie und Identität des Bösen. Der Autor geht von der Grundannahme aus, dass das Leben, wenn es auch keinem großangelegten Plan folgt, dennoch seine eigene Logik besitzt. Es stellt einen Sinnzusammenhang dar, in welchem auch das Böse seinen Platz hat. Er sucht nach Daten, Fakten, Ereignissen und Umständen, die zu einer biologisch orientierten Sicht des Bösen als einer Naturkraft verhelfen. Das Böse ist als störende Kraft bei der Veränderung eines bestehenden labilen Gleichgewichtes erkennbar. Das Begehren schafft das Ungleichgewicht und führt zum Verlust der Mitte, d.h. des richtigen Maßes. Das Böse ist das Zügellose, das Exzessive. Es ist das, was der Ökologie schadet. Ein wichtiges Symbol ist in diesem Zusammenhang die Spirale. Sie ist das Symbol des Wandels, des Wachstums, der Ordnung im Chaos, der Identität der Gegensätze. Das Leben (ob böse oder gut) ist etwas Ausgefallenes und letztlich Irrationales. Es schwimmt gegen den Strom und ist noch am ehesten an seinem Eigenbrötlertum zu erkennen. Mitten in einem Umfeld von Verworrenheit, Unklarheit und Vielfalt besitzt es doch Gestalt und Ordnung. Die Nachtseite des Lebens ist die dunkle Kraft, was immer sie sein mag, sie verkörpert das Unkonventionelle, das Launenhafte, das Unberechenbare. Nach Auffassung des Autors ist das Böse, trotz seiner finsteren und bedrohlichen Aspekte, etwas Unvermeidliches, etwas, das zum Lebendigen dazugehört. Das Gute ist dann nicht das Gegenteil des Bösen, sondern vielmehr eine Region des Feldes, in dem sie beide zusammen existieren. Es gibt also triftige Gründe für das Fortbestehen des Bösen. Das Gute ist ein System, das letztlich stabil ist und weitgehend so funktioniert, dass es dem gemeinsamen Besten aller Beteiligten dient. In der Natur gelten die „drei Hauptsätze der Pathik“, die alle mit Ordnung und Unordnung, Stabilität und Instabilität, Gleichgewicht und Ungleichgewicht zu tun haben. Unordnung, Ungleichgewichte, Unausgewogenheit sind Quellen für das Böse. Aus der Sicht dieser Hauptsätze der Pathik kann man das Leben als ein kunstvoll geknüpftes Beziehungsgeflecht interpretieren, welches dem allgemeinen Besten dient. Gutes wird aus dieser Sicht zur völligen Verderbnis, wenn sich seine Vernetzung mit anderem Guten vollständig auflöst. Der Preis des Bösen kann also beziffert werden. Die biologische Wahrheit, die wir als Faktum anerkennen müssen, besagt, dass wir als Menschen von Natur aus egoistisch sind. Eine wichtige Funktion kommt den Genen bei der Steuerung des Verhaltens zu. Die Gene konzentrieren sich zielstrebig auf ihr Programm, sie lügen und betrügen, ja, sie morden sogar, wann immer es ihren Zwecken dient. Das Lügen macht sich in der Natur und bei der Funktion der Gene oft bezahlt. Nichts trägt oft so reichlich Zinsen wie eine „faustdicke Lüge“. Das Böse kennt auch viele Tricks. Der Feind erhält den Makel des Verabscheuungswürdigen. Feinde werden als unreine Lebewesen erklärt. Sie sind „Untermenschen und Unmenschen“, die nicht wert sind zu leben. Es gibt zudem Gewaltspiralen, die mit einer gesetzmäßigen Kraft unausweichlich wirken.
Ein weiteres Faktum bei der Steuerung des Kampfverhaltens kommt dem menschlichen Gehirn zu. Das limbische System ist physiologisch für die Steuerung der aggressiven Impulse entscheidend.
Außerdem ist das „Opfer“ (Menschenopfer) ein Eckpfeiler der Menschheitsgeschichte. So beginnt die jüdisch-christliche Überlieferung mit der Opferung des Abels durch seinen Bruder Kain, der beinahe vollzogenen Opferung Issaks durch seinen Vater Abraham und dem freiwilligen Opfertod von Gottes eigenem Sohn auf Golgatha. Was sich uns im Opfer aus biologischer Sicht darstellt, ist eigentlich das Ergebnis eines Kampfes zwischen den Genen und einem jüngerem, weniger berechenbaren menschlichen Programm. Es ist daher verständlich, dass das Menschenopfer auf Dichter und Künstler eine faszinierende Anziehungskraft ausübt. Auch der Mensch ist genetisch instinktgeleitet aggressiv. Die Gene animieren uns nur zur Kooperation mit nahen Verwandten. So ist es verständlich, dass die Psychologie des Bösen u. a. den Lohn der Sünde impliziert. Die Frage lautet: Woher kommt bei Gewalttätern die Verwirrtheit, die Wahnvorstellung, die oft abrupte und radikale Stimmungs- und Wahrnehmungsschwankung?
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass wir das Böse mit Hilfe der Funktion der Gene, der Hirnphysiologie, der Verhaltensbiologie und auf der Basis des Neodarwinismus doch nur teilweise erklären können. Die Nachtseite des Lebens bleibt immer noch rätselhaft wie die Irrationalität des Lebendigen und des Lebens. Vielleicht ist das auch gut so.