Detlef Linke im Portrait

von Jens Heisterkamp

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Detlef Linke im Portrait

Gehirn und Gebet

Von Jens Heisterkamp
(mit freundlicher Genehmigung von info3)

Es ist schon einige Jahre her, als Detlef Linke in info3 grundsätzliche Fragen zum Menschenbild der Hirnforschung im Zusammenhang mit dem Thema “Organtransplantation” diskutierte. Insbesondere formulierte er dabei massive Kritik am so genannten “Hirntod-Konzept”, mit dem man die Organentnahme bei Menschen rechtfertigt, die noch nicht gestorben sind. “Wie lange scheint das heute zurückzuliegen, und wie heftig haben wir damals um etwas gerungen, was heute in die Selbstverständlichkeit abgerutscht ist,” resümmiert Linke mit seiner immer etwas rauh klingenden, dünnen und feinen Stimme die heftigen Debatten von damals, als wir uns nun nach Jahren wieder sehen. Die Neurochirurgie des Bonner Universitätsklinikums, sein zweites Zuhause, wird gerade umgebaut, mächtige Krane schwenken über die Gebäude, die am Grüngürtel der einstigen Bundeshauptstadt liegen. Die Vor- und Nachsorge von Hirnverletzten und -operierten bildet das Umfeld, in dem Linke arbeitet. Hier sind Fälle die Regel, in denen sich die Abhängigkeit des menschlichen Geistes von seiner biologischen Grundlage auf meist schmerzliche Weise offenbart, und hier lotet Linke die Spanne aus zwischen dem neurowissenschaftlichen Weltbild und einer ihm abzuringenden abendländischen Ethik. Während unseres Gesprächs sind hin und wieder kurze Anrufe zu beantworten, Gesprächsfetzen über Röntgenbilder und Befunde klingen an, der Tod ist hier immer dabei. Anders als etwa bei seinen populären Kollegen Roth und Singer, die ausschließlich experimentell und überwiegend im Tierversuch zu ihren Schlüssen gelangen, arbeitet der Professor aus Bonn ganz nah am Menschen.

“Seien Sie vorsichtig, mit den Aufnahmegeräten muss ich ein schlechtes Karma haben”, sagt Linke zu Beginn unseres Gespräches und macht noch ein paar weitere Anspielungen auf den weltanschaulichen Hintergrund, den wir als seine Gesprächspartner mitbringen, die Anthroposophie. Linke, der schon in der Kontext-Reihe des info3-Verlags publizierte, kennt Steiner, hat ihn auch in einem seiner Bücher erwähnt, zeigt sich interessiert an Steiners Verständnis von Freiheit und Trinität. Aber er kennt vor allem auch Kant, schätzt dessen klare kategoriale Trennungen, kennt auch Nietzsche, Freud, Derrida und so viele andere, gewinnt ihnen aber stets neue und ungewöhnliche Seiten ab, die er in sein eigenes Denken integriert. Welcher Philosoph oder Wissenschaftler käme sonst etwa auf die Idee, in Hölderlins Konzept der Poesie, wie uns Linke schmunzelnd erläutert, einen Entwurf der Hirnwissenschaften zu sehen?

Detlef Linke hat hier zwar direkt mit Patienten zu tun, aber in seinem weißen Kittel wirkt er in den tristen Weiten der Bonner Uniklinik doch eher einsam. Es ist die Einsamkeit eines Denkers, bei dem man sich nicht recht vorstellen kann, wer ihm in seine hohen Gedankenstreifzüge und in seine haarfeinen Unterscheidungen zu folgen bereit und in der Lage ist. Linke ist ein Außenseiter in der adelnden Bedeutung dieses Wortes, ein Querdenker im Lager der naturwissenschaftlich orientierten Medizin, der seine Materie beherrscht, aber nicht in ihr aufgeht, gleichermaßen Forscher und Philosoph, und mehr als einmal fragen wir uns während des Gespräches, was wohl seine Kollegen auf diversen Fachkongressen zu seinen ungewöhnlichen Positionen sagen. Denn für einen Wissenschaftler bietet Linke eine heute selten gewordene inhaltliche Substanz, was das Menschenbild angeht, vertritt eine tief christliche Ethik – : wobei er allerdings seine programmatische Schlagkraft mit Vorliebe in Nebensätze, Einschränkungen und Einwände verschlüsselt, die sich so, fast unbemerkt, ins Gehirn oder ins Denken der Adressaten einschleichen. Seine Strategie, fragwürdige Positionen beispielsweise eines rein mechanischen Verständnisses des Geistes aufzugreifen, ihre Konsequenzen weiterzuspinnen und dabei mit versteckter Ironie zu irritierenden Resultaten zu gelangen, wäre mir selbst fast zum Verhängnis geworden, als sich Linke einmal scheinbar zustimmend über “Hirnverpflanzung als erste Form der Unsterblichkeit auf Erden” äußerte. Diese und ähnliche Positionen sind aber nur eine Methode für ihn, in das Innere fremder Denkgebäude einzudringen und das intellektuelle Immunisierungssystem zu durchbrechen, das der materialistische Determinismus um sich herum aufgebaut hat.

In seinem neuen Buch “Das Gehirn – Schlüssel zur Unendlichkeit” äußert sich Linke hauptsächlich zu theologischen Fragen. Unerwartet deutlich weist er dabei zunächst Ansätze zurück, die von Seiten der so genannten Nah-Todesforschung Brücken zwischen Hirnforschung und religiösen Erfahrungen schlagen könnten: Linkes kritische Argumentation gegenüber den mutmaßlich das “Jenseits” betreffenden Erfahrungen Sterbender lässt sich auf die Formel bringen: hier handelt es sich nicht wirklich um Erfahrungen von Verstorbenen und nicht wirklich um Erfahrungen des “Jenseits”, denn wären es Erfahrungen wirklich Verstorbener – d.h. von Menschen mit irreversiblem Hirnausfall – dann gäbe es diese Berichte und diese Erfahrungen eben nicht. Nachvollziehbarer dagegen ist Linkes Abgrenzung gegenüber der neuerlich aufstrebenden “Neurotheologie”, die Religion evolutionsthereotisch sozusagen zur “biologischen Ausstattung des Menschen” erklären will. Hier handle es sich um “ein erschlichenes Argument” für die Religion, so Linke, der ebenfalls Gegner der “Modul”-Theorie ist, wonach man ganz bestimmte Hirnpartien als zuständig für religiöse Gefühle identifizieren will. Dem Reduktionismus, der beispielsweise religiöse Ekstase durch defekte Hirnlappen erklären möchte, hält er mit Blick auf Dostojewski die wunderbare Frage entgegen: “Warum sollte nicht die Wahrheit in einem von Krankheit gezeichneten Gehirn besonders leicht zum Ausdruck kommen?” Schwer nachvollziehbar und fragmentarisch bleibend versucht sich dann aber Linke doch selbst in seinem Buch an einer Art “neurologischem Gottesbeweis”, indem er die Zuwendung zu “Gott” als einer Instanz oberhalb der “Überfülle an Attraktoren” sieht, zu der im Gehirn abgebildeten Unendlichkeit der Bezugsmöglichkeiten und als “Möglichkeit, gerade im Versuch des Vorstellens Güte schon als verwirklicht zu empfangen”.

Für Linke sind solche Formulierungen nicht nur Theorie. Denn er betet auch selbst regelmäßig – ein ungewöhnliches Geständnis, das man bei einem Hirnforscher nicht erwartet, beim genaueren Lesen seines Buches aber doch nicht überrascht. “Wie kann man unbefangen beten, wenn man so genau weiß, was dabei im Gehirn vorgeht”, wollen wir wissen. Das bereite ihm überhaupt kein Problem, ist seine Antwort. Auf die Idee, das Göttliche ebenso wie den Geist als etwas von Materie und Körper unabhängiges anzusehen, das sich im Gebet direkt begegnet, will er sich aber nicht einlassen. “Der Geist ist mehr als unser Hirn” – schreibt zwar der Verlag als Untertitel auf sein neues Buch, aber Linke selbst sieht sich als Vertreter eines konsequenten Parallelismus, der Geist und Gehirn als zwei gleichberechtigte Bereiche sieht, deren Interaktion wir bisher nicht verstehen. Eine Hierarchisierung will er nicht vornehmen. Ein schwieriger und für den Betrachter sehr schmal wirkender Weg, den Linke gewählt hat, der irgendwo in eine metaphysische Region jenseits der Hirnströme zu führen scheint – ein einsamer Weg.

Detlef B. Linke: Das Gehirn – Schlüssel zur Unendlichkeit. Herder Verlag, 2004 192 S., Euro 19,90.