- Der Streit um die zwei Kulturen - 30. Oktober 2000
Einführung und Dokumentation
zusammengestellt und eingeleitet von Hazel Rosenstrauch,
Mitarbeiter: Rainer Hohlfeld, Wolf-Hagen Krauth, Tillmann Hornschuh, Christoph Kehl
Mit freundlicher Genehmigung aus: Gegenworte, 2000, Heft 6
Definitionskriege
Der Gedanke, dass Natur- und Geisteswissenschaften auf verschiedenen Instrumenten recht unterschiedliche Melodien spielen, ist fast so alt wie jene Gelehrtengesellschaften, aus denen Akademien und Universitäten der Moderne hervorgegangen sind; die Umgangsformen variierten je nach Zeit, Ort und Disziplin. Das angelsächsische Wissenschaftssystem anerkennt ohnehin nur die Naturwissenschaften als >science< und rechnet das, was in Deutschland Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften heißt, zu den >humanities<. Sofern es einen gemeinsamen Nenner der Kontroversen gibt, geht es um die Einheit der Wissenschaft als einer unverzichtbaren Voraussetzung, um gemeinsame, rational nachvollziehbare Maßstäbe für Forschung durchsetzen und legitimieren zu können. Wer aber bestimmt die Maßstäbe?
Die aktuellen Debatten über die Wahrheit(en) in Natur- und Geisteswissenschaften werden aus mehreren Quellen gespeist. Je nach wissenschaftlicher Heimat der Protagonisten werden die >Definitionskriege< (Mittelstraß) und mögliche Lösungen des Problems historisch, sozial oder auch ideologisch und ökonomisch interpretiert, wobei die Trennlinien keineswegs nur zwischen harten >sciences< und weichen >humanities< verlaufen.
Versuche, die Mannigfaltigkeit der Wissenschaften zu einer Einheit zu bringen, reichen von Leibniz über Goethe und Alexander von Humboldt bis zur Wissenschaftsphilosophie der 1920er und 30er Jahre; sie erscheinen als Wissenschaftslogik, als sozialwissenschaftliche Reflexion über Wissenschaftsentwicklung, als Philosophie der Biologie, Soziobiologie, als Kognitionswissenschaft oder neuerdings als Programm einer »dritten Kultur«, in der eloquente Naturwissenschaftler den literarisch gebildeten Typus des Intellektuellen abzulösen versprechen.
Wichtige Referenzpunkte für die Auseinandersetzungen nach dem 2. Weltkrieg waren Snows 1956 erschienener Aufsatz über zwei einander ignorierende und durch die Trennung verarmte Kulturen und Wolf Lepenies’ Hinweis auf eine zwischen Literatur und Exaktheit oszillierende >dritte<, sozialwissenschaftliche Kultur. Zuletzt bis in die Feuilletons vorgedrungen ist der Streit, der nicht nur um den Stein der Weisen, sondern auch um Ressourcen geführt wird, in Form des so genannten >Science war<.
Protagonisten, Fronten, Erklärungsmuster
Debatten wie die über >Science wars< werden primär in den Medien, bestenfalls auf Fluren geführt, und innerhalb der Scientific communities gibt es auch kaum Orte für derlei Auseinandersetzungen. Die Etablierung einer Wissenschaftsforschung seit den 1970er Jahren hat das Schisma eher verschärft als aufgehoben, weil das neue Spezialgebiet – der wissenschaftlichen Arbeitsteilung gehorchend – gleichsam stellvertretend die Reflexion der Wissenschaftsentwicklung übernommen hat. Wie auch sonst bei der Untersuchung fremder Stämme, wollen sich die beobachteten und untersuchten Naturwissenschaftler in den Ergebnissen dieser Forschung nicht erkennen. Befremdend ist für Naturforscher vor allem die einerseits wissenschaftshistorische, andererseits postmoderne Auflösung des Objektivitätsbegriffs. Abgesehen von den unterschiedlichen Blickwinkeln, Sprachen und Argumentationsweisen dürften die Missverständnisse nicht zuletzt daher rühren, dass die jeweiligen Vertreter eher gegen- oder aneinander vorbei als miteinander argumentieren.
Schon Snow hatte darauf hingewiesen, dass die kaum mehr übersetzbaren Sprachen und Wahrnehmungen von Natur- und Geisteswissenschaftlern auch eine Folge der erodierenden Kultur sind. Die Auseinandersetzungen sind eingebettet in eine Auflösung verbindlicher, gemeinsamer Wertorientierungen in allen Lebensbereichen. Jene Kohäsion der Scientific Community, die durch Geselligkeitsformen alter Herren oder eine kanonisierte Bildung gewährleistet wurde, ist mit der quantitativen Ausweitung des Wissenschaftsbetriebs, der immer feineren Spezialisierung und der Demokratisierung der höheren Bildung verschwunden. Gemeinsam ist der geisteswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Intelligenz, dass im Laufe dieses Prozesses ihre Autorität erschüttert wurde.
Ein schlichter und nicht unerheblicher Kern der Auseinandersetzungen um Objektivität und Relativismus ist der wachsende Einfluss der Naturwissenschaft und die schwindende Bedeutung der Geisteswissenschaft. Diese Entwicklung habe sich jedoch kaum im Prestige der Forscher und auch nicht in den Lehrplänen niedergeschlagen. In Schulen, in subventionierten Theatern, in Feuilletons und geselligen Zusammenkünften sei trotz des allgemeinen Bedeutungsverlusts von bürgerlicher Kultur immer noch »Shakespeare wichtiger als das zweite Gesetz der Thermodynamik« (Snow) – diesem oft wiederholten Argument kann inzwischen die Klage der Humanisten über mangelnde Shakespeare-Kenntnisse hinzugefügt werden. Zugleich entwickeln sich derzeit neue Formen von Belehrung und Unterhaltung, werden die Naturwissenschaften in Ausstellungen, auf Wissenschaftsmessen, in Shows, Filmen und auf der Bühne statt oder als Kunst der Öffentlichkeit nahe gebracht. Die Diskussion um Philosophie oder Technik, Machen versus Nachdenken, Wahrheit oder Erfolg dürfte nicht zuletzt auch eine europäisch-amerikanische Facette beinhalten; sie wird weiter verkompliziert dadurch, dass Wissenschaftler offenkundig schlechte Interpreten ihres eigenen Tuns sind.
Neben den eher skurrilen Wissenschaftskriegen wird – um in der Rhetorik zu bleiben – auch an den Grenzen zur Gesellschaft gekämpft. Die Naturwissenschaften versuchen mit multimedialen Geschützen, das Misstrauen der Laien zu zerstreuen. Das Vertrauen in den einst mit hohem Ansehen verbundenen Beruf war schon durch die Beteiligung zahlreicher Vertreter der Wissenschaft an der Entwicklung von Waffen im 1. und 2. Weltkrieg erschüttert; Katastrophen, Umweltprobleme und Frankenstein-Phantasien haben die Skepsis gegenüber Wissenschaft allerdings nur beschleunigt, die Entwicklung von einer >Berufung< zum >Job< hatte schon vorher eingesetzt (Max Weber). Mit der Produktion arbeitsloser Akademiker wurde die Tätigkeit des Wissenschaftlers endgültig ihres Heiligenscheins beraubt, und die Kämpfe um knapper werdende Forschungsmittel scheinen auch die theoretischen und die feuilletonistischen Schlachten zu munitionieren. Auch hier verlaufen die Grenzen quer über Disziplinen, lassen sich Laien und Experten, Gesellschaft und Wissenschaft schwerlich auseinander halten.
Grenzüberschreitungen
In die aktuelle Debatte über das Verhältnis von Natur- und Kulturwissenschaft mischen sich so gleichsam alle relevanten Fragen, die auf irgendeine Weise mit Wissenschaft und ihrer Interpretation der Wirklichkeit in Verbindung gebracht werden. Es geht ums Ganze: um den Umgang mit Natur, um die Würde des Menschen, um die Verteilung von Geldern und um die Wahrheit sowieso. Gleichzeitig werden traditionelle Felder der Kulturwissenschaften von Hirnforschern und Gentechnikern besetzt. Die Genomforschung schickt sich an, die Grundfragen der Existenz nach dem Woher und Wohin neu zu beantworten.
Zwischen den großformatigen Debatten um Forscherneugier oder Sinnfrage werden, nicht zuletzt aufgrund der in wörtlichem Sinne unfassbaren Zunahme des Wissens und seiner Produzenten, Terrainkämpfe ausgefochten, die gewiss nicht nur mit rationalen Mitteln geführt werden und Grenzüberschreitungen erschweren. Ähnlich wie in der Diskussion um >Globalisierung< und >Multikulti< geht es auch um Grenzverschiebungen, Definitionsmacht, Identitätspolitik und Auflösung von Hierarchien, werden historisch gewachsene Zugehörigkeiten zugleich obsolet und überbetont.
Für eine >Einheit in der Mannigfaltigkeit (um zur Rhetorik der Ästhetik zu wechseln) ist das derzeitige wissenschaftliche System schlecht ausgerüstet. Es ist primär darauf angelegt, dass einzelne Wissenschaftler ihr Renommee und ihre Aufstiegsmöglichkeiten durch >peers<, via Fachpublikationen, innerhalb einer Disziplin erhalten. Viele der Probleme, für die derzeit wissenschaftliche Lösungen gesucht werden, erfordern aber Kooperation. Die akuten Probleme, die Absurdität so mancher Abspaltung von Fachgebieten oder die Einseitigkeit von Spezialisten würden kontinuierlichen Austausch erfordern, die bestehenden Strukturen jedoch bestrafen Wissenschaftler, die über den Tellerrand ihres Fachgebiets schauen. Neue Institutionen und Kombinationen entstehen so eher außerhalb der traditionellen wissenschaftlichen Organisationen oder in Zwischenräumen. Zugleich verschiebt sich das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, der bislang gültige >contract social< scheint erneuerungsbedürftig (Simon).
Die Naturwissenschaften verschaffen sich Gehör
»I believe the intellectual life of the whole of western society is increasingly being split into two polar groups … at one pole we have the literary intellectuals, who inciden-tally while no one was looking took to referring to themselves as >intellectuals< as though there were no others … at the other scientists, and äs the most representative, the physical scientists. Between the two a gulf of mutual in-comprehension – sometimes … hostility and dislike, but most of all lack of understanding. They have a curious distorted Image of each other. Their attitudes are so dif-ferent that, even on the level of emotion, they can’t find much common ground.« (Snow, in: The two cultures and the scientific revolution, S. 3 f.)
»Die meisten Politiker und Angehörigen des Establishments – Beamte, Medienleute und diejenigen, die sie kontrollieren – haben in Oxford ein geisteswissenschaftliches Studium absolviert. Deshalb herrscht in der Öffentlichkeit das Bild vom Intellektuellen als einem ergrauten bebrillten Herrn, der sich mit griechischer Mythologie beschäftigt, Sherry trinkt und in beschaulicher Muße auf dem Fluss durch das Gelände eines alten College paddelt. Und mit dieser Vorstellung ist ein Status verbunden, der nahe legt, die in Kunst und Literatur Ausgebildeten hätten ein gottgegebenes Monopol auf die großen Fragen des Seins. Erst in den letzten Jahren üben Naturwissenschaftler einen gewissen Einfluss auf diese so genannten großen Fragen aus, und dieser Einfluss hat eine hässliche Gegenreaktion ausgelöst… Die Gegenreaktion bestand in hysterischem Phrasendreschen in Zeitungen und Zeitschriften sowie in einer ganzen Flut von Büchern, die Naturwissenschaftler als arrogante, selbstverliebte Schwindler brandmarken … Viele Jahre lang wurden die Naturwissenschaftler ignoriert… Jetzt verschaffen sie sich allmählich Gehör, und sofort werden sie als intellektuelle Mafia abgestempelt.« (Davies, in: Die dritte Kultur: Das Weltbild der modernen Naturwissenschaft, S. 25 ff.)
»Die Ersetzung der Ansicht, dass es auf Fakten und Beweise ankommt, durch die Idee, dass letztlich alles auf subjektive Interessen und Perspektiven hinausläuft, ist… die herausragendste und zugleich bösartigste Manifestation des Anti-Intellektualismus in unserer Zeit.« (Laudan, Science and Relativism, S. X)
»In recent years science has come under attack from un-friendly commentators joined under the banner of rela-tivism. The philosophical relativists deny the claim of science to the discovery of objective truth; they see it as merely another social phenomenon, not fundamentally different from a fertility cult or a potlatch.« (Weinberg, Dreams of a final theory, S. 146)
»Die Arbeitshypothese der Naturwissenschaften ist, dass es eine vom Menschen unabhängige, ihm gewissermaßen gegenüberstehende >Natur< gibt, deren Grenzen er >entdecken<, aber nicht erfinden oder beeinflussen kann. Es gibt nach dieser Hypothese ein Gegenüber von Forscher und Forschungsgegenstand, die Ergebnisse der Forschung sind verallgemeinerbar, sie dürfen nicht vom Forscher abhängig sein. Erst dann sind sie >Wissenschaft<. Diese Arbeitshypothese ist höchst erfolgreich gewesen. Sie hat die moderne Naturwissenschaft hervorgebracht, die sich auf dem >Markt für verwertbares Wissen< mit der Richtigkeit ihrer Ergebnisse daran hat messen lassen müssen, dass die Menschen gesund geworden, die Brücken nicht eingestürzt, die Flugzeuge geflogen sind und die Computer richtig gerechnet haben … in den Naturwissenschaften … (richtet) sich die >Natur<, der Forschungsgegenstand nicht nach dem Forscher … Früher oder später wird die Wahrheit herauskommen, auch wenn gelogen, vorab publiziert und gestohlen wird.« (Pinkau, Leserbrief an GEGENWORTE)
Naturwissenschaften im sozialen Kontext
»Wissenschaftliche Kommunikation ist, wie immer besonders und selbstreferentiell geschlossen sie sich etabliert und aus sich selbst speist, immer auch Kommunikation, das heißt Vollzug von Gesellschaft. Offensichtlich ist und bleibt die Wissenschaft, bei allen Trends zur Mathematisierung und Computerisierung, auf die gesellschaftliche Vorgabe von Sprache angewiesen – und zwar nicht deshalb, weil sie gelegentlich so etwas wie >ordinary language< anwenden muss, sondern weil sie selbst aus Kommunikationen besteht.« (Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 607)
»Der Streit der zwei Kulturen ist älter als das 19. Jahrhundert, doch erst als die sozialen und kulturellen Konsequenzen der industriellen Revolution spürbarer wurden, die noch schwachen Umrisse der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation sich am Horizont abzeichneten und die öffentliche Erziehung großer Bevölkerungsteile eine immer stärkere Bedeutung gewann, wurde er zu einem Kernthema in den politischen Tagesauseinandersetzungen.« (Lepenies, Die drei Kulturen: Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, S. 195)
»Religiöse Dogmen verlangen blindes Vertrauen – wie aber sieht es mit den Methoden und Erkenntnispraktiken der Wissenschaft aus? Wie kommen wissenschaftliche Erkenntnisse überhaupt zustande? Was ist ausschlaggebend dafür, dass sie als >wahrer<, als universeller gelten als andere Wissensformen? Ein zentrales Ziel, mit dem insbesondere die neuere Wissenschaftsforschung angetreten ist, war es, genau solche Fragen zu untersuchen und so die geheimnisvolle >Black box< Wissenschaft zu öffnen … Nachdem die Wissenschaftsforschung auch … vor Ort in den Laboratorien >science in the making« beobachtet hat, haben die Naturwissenschaften viel von ihrem geheimnisvollen Nimbus eingebüßt… Wissenschaft, die Entzauberin der modernen Welt, ist selbst entzaubert worden.« (Felt u.a., Wissenschaftsforschung. Eine Einführung, S. 8)
»Der Kernforscher, der an einem Forschungsreaktor interessiert ist, hat zu dem Bau eines Forschungsreaktors eine grundsätzlich andere Einstellung als der Biologe, dessen Haus in der Nähe des künftigen Forschungsreaktors steht. Diese Vielzüngigkeit der Wissenschaft hat besondere Ausprägungen dort, wo es um den Gegensatz zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften geht. Und sie hat in ganz besonderem Maße lästige Auswirkungen dort, wo Forscher, die unmittelbar an einer Erkenntnis arbeiten, in der öffentlichen Erklärung und Auseinandersetzung mit Wissenschaftlern konkurrieren, die sich darauf spezialisieren, die Öffentlichkeit und Politik, zuweilen auch rechtliche Instanzen, über die Risiken fremder Forschungsarbeiten zu beraten.« (Zacher, in: Der schrumpfende Freiraum der Forschung, S. 24)
»Jede Ordnung des Wissens meint eine Hierarchisierung des Wissens. Das gilt auch für das Verhältnis zwischen Natur- und Geisteswissenschaften … Unser Glaube an die Ungleichheit des Wissens, der in den einzelnen Disziplinen und zwischen ihnen ohne Unterlass Außenseiter und Ausgeschlossene produziert, hat es schwer gemacht, Zusammenhänge gerade an der Stelle zu erkennen, wo Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften sich zu berühren scheinen. Wichtiger ist immer die Feststellung ihrer Differenz; für ihre Berührungen fehlt auch heute noch sowohl ein erkenntnistheoretischer als auch ein institutioneller Rahmen.« (Cahn, in: Glanz und Elend der zwei Kulturen, S. 181 ff.)
»Als Gegner stehen einander nicht zwei wissenschaftliche Fächer gegenüber, mit unterschiedlichen Gegenständen, aber ähnlichem Wissenschaftsverständnis, sondern zwei wissenschaftliche Konfessionen, deren Auseinandersetzungen nicht selten Züge eines Glaubenskrieges annehmen.« (Vowinckel, in: Zwischen Natur und Kultur, S. 35)
Einheit, Annäherungen, Grenzverschiebungen »Die Einsichten der Biologie, zu der auch die in den letzten Jahren sprunghaft gestiegenen Erkenntnisse der Hirnphysiologie gehören, lassen erkennen, wie eng die Natur mit dem Geist verschwistert ist. Es wäre abwegig, daraus die Konsequenz einer wissenschaftlichen Liquidierung des Geistes zu ziehen. Aber die Wissenschaft sollte sich im Zeichen der neuen Entwicklungen endlich zu einer Überwindung der Spaltung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften entschließen. Wir brauchen Forschungsprogramme, die quer zu den alten Grenzen liegen.« (Gerhardt, in: Merkur, S. 644)
»Die so genannten >Science wars< zwischen Soziologen und Wissenschaftlern sind unerfreulich, missgeleitet und reine Zeitverschwendung. Wenn wir wirklich um die legitime Autorität der Wissenschaften in unserer Kultur besorgt sind, sollten Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaftler systematisch gemeinsame Forschungsprojekte angehen, in denen es um die Frage geht, worin diese Autorität jeweils besteht und wie sie begründet ist.« (Shapin, in: Frankfurter Rundschau)
»… gleich welchen Erscheinungen wir auf dem Weg in unser Innerstes begegnen werden, fest steht, dass die Hirnforschung unser Selbstverständnis tiefgreifend verändern wird. Erkennbar ist auch, dass die Hirnforschung dort, wo sie nach den höchsten Funktionen fragt, in angestammte Territorien der Geisteswissenschaft eindringt, mit der faszinierenden Konsequenz einer erneuten Annäherung von Natur- und Kulturwissenschaften. Ich wage die Voraussage, dass wir dieser Annäherung bedürfen, wenn wir die philosophischen, ethischen und moralischen Probleme bewältigen wollen, mit denen wir auf unserem Weg nach innen mehr und mehr konfrontiert sein werden.« (Singer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung)
»(D)as Problem der >zwei Kulturen< (stellt sich) gegenwärtig nicht mehr in der Schärfe … wie noch vor wenigen Jahren. Das heißt, die Geistes- und Sozialwissenschaftler tun heute nicht mehr generell etwas gänzlich anderes als das, was die Natur- und die Ingenieurwissenschaftler betreiben; vielmehr gibt es Überschneidungsbereiche, in denen die Natur- und Ingenieurwissenschaftler an der Einbeziehung sozialwissenschaftlichen Wissens interessiert sind, ablesbar an der wachsenden Zahl einschlägiger Forschungsprojekte – ein klarer Fall von Forschungsermöglichung durch öffentliche Kritik.« (Zimmerli, in: Der schrumpfende Freiraum der Forschung, S. 82)
»Geisteswissenschaftler und Soziobiologen vertragen sich nicht immer besonders gut. In diesem traditionellen Spannungsfeld reklamieren Geisteswissenschaftler und Soziobiologen oft eine behauptete Überlegenheit objektiver naturwissenschaftlicher Fakten über die von Wunschdenken geleiteten Konzepte von Geisteswissenschaftlern, während Letztere den Soziobiologen ein biologisch reduziertes mechanistisch-materialistisches Welt- und Menschenbild nachsagten, mit dem noch dazu reaktionäre politische Gedanken transportiert werden … Wenn man aber derartige, fast ritualisierte Auseinandersetzungen verfolgt, ist zu erkennen, dass sie sich mittlerweile überlebt haben oder überlebt haben sollten, denn auch für diese Fragestellung gilt: Grund- und Randbedingungen sozialen Verhaltens sind biologisch angelegt; die Ausprägung aber ist offensichtlich eine Kulturleistung. Sie kann relativ menschenfreundlich, aber auch ziemlich menschenfeindlich ausfallen; es ist unsere Aufgabe, menschenfreundliche Optionen zu fördern.« (Gierer, in: Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit — Gegensatz — Komplementarität?, S. 52)
»Wissenschaft und Kultur – das scheint nicht zu gehen … Aber das ist ein Irrtum. Er entsteht, nachdem man die Kultur in die Ecke gestellt, an den Kamin, nach Zwergenweise in den Vorgarten gesetzt hat. Da gehört sie aber nicht hin. Ein anderer Kulturbegriff ist angezeigt. Es ist ein Begriff, der die Wissenschaften einschließt, nicht ausschließt, nicht nur die Geisteswissenschaften, sondern auch die Naturwissenschaften. Es ist ein Weltbegriff der Kultur, nicht ein engstirniger Schulbegriff…. Die Rede von den Geisteswissenschaften täuscht eine Ordnung vor, die es längst nicht mehr gibt. Das Wissenschaftssystem ist dynamisch und offen; es ist gerade an den Rändern produktiv – Beispiele: Ökologie, Soziobiologie, Biochemie, Anthropologie -, während ein Bestehen auf alten disziplinären Grenzen eher fortschrittshemmend, ein falscher Konservatismus ist.« (Mittelstraß, in: Glanz und Elend der zwei Kulturen, S. 16 f.)
»Die Biophilosophie spielt eine wichtige Rolle als Brückenbauer zwischen den so genannten exakten Wissenschaften und den Geisteswissenschaften. Die traditionelle Philosophie, von den Griechen bis zum letzten Jahrhundert, half dem Einzelmenschen, seine eigene Weltanschauung zu entwickeln. Bei diesem Bestreben war keine der Philosophien, die ausschließlich auf Physik, Mathematik und Logik beruhen, wie der logische und empirische Positivismus, irgendwie behilflich. Und doch brauchen wir alle eine persönliche Philosophie, um ein glückliches und produktives Leben zu führen. Diejenigen, die nicht an einen persönlichen Gott und die Offenbarungen der Bibel glauben können, sind genötigt, ihre eigene Religion oder Weltanschauung zu entwickeln, und für diesen Zweck ist die Biologie der geeignetste Start… die Biologie (bildet) eine Brücke und die weitere Ausgestaltung einer Philosophie der Biologie (wird) das gegenseitige Verstehen beider Lager fördern. Und das sollte die zur Zeit noch bestehende Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften überwinden helfen, bis wir schließlich eine vereinte Wissenschaft haben, im weitesten Sinne des Wortes. Darauf müssen wir hinarbeiten!« (Mayr, in: Berichte und Abhandlungen, S. 299 ff.)
»Ich betone … die gemeinsame Verpflichtung auf Empirismus und Objektivität, weil ich den starken Verdacht habe, dass die geläufige Unterscheidung zwischen Natur- und Kulturwissenschaften viele wichtige Ähnlichkeiten in den Begründungs- und Argumentationsstandards verdeckt. Es gibt mehr Möglichkeiten als nur >Gegensatz< und >Komplementarität<. Der zweite Punkt… ist gegen den gleichermaßen tief sitzenden und fragwürdigen Gegensatz zwischen dem Rationalen und dem Kulturellen gerichtet. Wenn es sich herausstellt, dass ein wissenschaftliches Ergebnis seine Wurzeln in kulturellen Überzeugungen hat, dann folgt daraus nicht zwangsläufig, dass deswegen dieses Ergebnis ungültig ist.« (Daston, in: Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit – Gegensatz – Komplementarität?, S. 37)
»(Ich möchte)… auf dem >Streit der Fakultäten< beharren, sie zugleich aber in interdisziplinäre Forschungsverbünde integrieren … Wichtigste Voraussetzung dafür wäre, dass die eigene Disziplin mit ihren Voraussetzungen, Forschungsparadigmen und Zielen neu, und d. h. aus der Perspektive einer anderen Disziplin betrachtet würde, der Historiker z. B. bereit wäre, bei seinen Gegenständen … eine literaturwissenschaftliche Perspektive auszuprobieren; die Literaturhistorikerin dazu bereit (und imstande) wäre, naturwissenschaftliche oder medizinische Paradigmen zu erproben, wenn sie z. B. die Affektkultur oder Pathologie moderner Subjektivität untersucht; der Naturwissenschaftler dazu, Denkformen und Interpretationsmuster hermeneutischer Disziplinen in seine Arbeit einzubeziehen usf…. Interdisziplinarität, die nicht additiv, sondern perspektivisch verfährt, meint einen Dialog der Fächer, der im >fremden Blick< auf die vertrauten Paradigmen zwar neue Dimensionen des Verstehens gewinnt, gerade damit aber die Unterschiede der Fächer und deren Besonderheit unterstreicht.« (Röcke, Vom »Streit der Fakultäten« zur Einheits- Wissenschaft?)
Das Eindringen der Außenwelt
»Das wirkliche Defizit aber liegt in der mangelnden Verbindung der naturwissenschaftlichen und technischen Entwicklung auf der einen und der geistig-politischen Beherrschung dieser Entwicklung auf der anderen Seite. Die Herausforderung des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts ist es, die Synthese zwischen den naturwissenschaftlich-technischen Entwicklungen und deren geistigpolitischer Beherrschung herzustellen.« (Biedenkopf, in: Technik 2000 – Chance oder Trauma, S. 13)
»Die eigentliche Revolution, die (hinter der Entschlüsselung des Genoms) steckt, geht jedoch viel weiter. Die klassische Trennung … von Wissenschaft und Industrie wird obsolet… New Economy wird heute unumstritten als Synonym für eine neue, unkonventionelle, leistungs- und erfolgsorientierte Einstellung in der Industrie benutzt. Ganz analog ist es auch an der Zeit, den Begriff der >New Science< zu prägen.« (von Bohlen und Halbach, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung)
»Like it or not, if science expects public Support, it moves into an arena where it must be political in the best sense -and possibly the worst – in order to justify its claims.« (Guston und Keniston, The fragile contract, S. 30)
»Während früher die Wissenschaft im Namen der Natur gesprochen hat und die politische Macht sich auf die Wissenschaft berufen konnte, wird heutzutage zunehmend gefordert, zur Wissenschaft auch im Namen der Gesellschaft zu sprechen … Die Demokratisierung der Gesellschaft macht vor der Wissenschaft nicht Halt und wissenschaftliche Institutionen sehen sich zunehmend mit Forderungen nach Mitsprache konfrontiert. Selbst die bisher unbestrittene Grundlegung des wissenschaftlichen Wissens — in Form der Produktion von verlässlichem Wissen, das von der relevanten scientific Community konsensual hergestellt und gewährleistet wird – erweist sich dort als ungenügend, wo trotz des >Funktionierens< Kritik oder Ablehnung erfolgt… Die vermeintlichen Unterschiede zwischen den vorwissenschaftlichen Humanwissenschaften und den unsozialisierten Naturwissenschaften verschwinden damit endgültig.« (Nowotny, in: Der Standard)
»Es lässt sich die Voraussage wagen, dass die Landschaft wissenschaftlichen Wissens in der Zukunft in noch viel größerem Umfang als bisher durch die Moden der politischen Agenda gekennzeichnet sein wird, eine Entwicklung, die sich schon jetzt in den unterschiedlichen Formen der Repräsentation der Wissenschaft in Selbstbeschreibungen von Disziplinen und in Förderprogrammen abzeichnet… Strukturen der Wissensproduktion spiegeln wie alle anderen die grundlegenden Unterscheidungen, ordnenden Kategorien und deren soziale Repräsentationen wider, die notwendig sind, um die Aktivität (Forschung) aufrechtzuerhalten, ihr Richtung für die Zukunft zu verleihen, indem ein Gedächtnis für vergangene Leistungen geschaffen wird. Ohne derartige Strukturen, die sich per definitionem von der unstrukturierten Welt um uns herum unterscheiden müssen, kann es keine Erkenntnis und mithin kein Wissen geben.« (Weingart, in: Ethik und Sozialwissenschaften, S. 527)
»Wissenschaft und Forschung müssen … – heute mehr denn je – über ihr Handeln und Tun Aufklärung und Rechenschaft geben. Dazu gehört mehr, als nur Themen, Ergebnisse und Produkte aus Wissenschaft und Forschung anschaulich und interessant darzustellen. Wissenschaft und Forschung müssen sich gerade bei strittigen Fragen der öffentlichen Diskussion stellen.« (Bulmahn, in: Pressemitteilung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften)
»In der Tat findet gegenwärtig auf breiter Front ein Einbau der Öffentlichkeit in die Wissenschaft statt… (er) bedeutet nicht nur einen Gewinn von Verlässlichkeit und Legitimation für das erzeugte Wissen. Er bedeutet auch etwas, was man mit einem schon fast wieder vergessenen Ausdruck als anhaltende >Demokratisierung< der Wissenschaft bezeichnen sollte.« (Simon, in: Transit, S. 190)
Literatur
Biedenkopf, K.: Technik 2000 – Chance oder Trauma, in: Miegel, M. (Hrsg.): Technik 2000 – Ghana oder Trauma, Stuttgart, 1982, S. 13-35
Bulmahn, E.: Grußwort der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn anlässlich der Festveranstaltung >300 Jahre Berliner Akademie der Wissenschaften< am 1.Juli 2000 in Berlin, Pressemitteilung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, in: http://www.bbaw.de/aa/pressemitteilungen/gruss_buhnahn.htm
Cahn, M.: Wissenschaft und Literatur. Eine Berührungsstelle der zwei Kulturen, in: Bachmeier, H. und Fischer, E. P. (Hrsg.): Glanz und Elend der zwei Kulturen, Konstanz 1991, S. 181-193
Daston, L.: Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität, in: Oexle, O. G. (Hrsg.): Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit – Gegensatz – Komplementarität, Göttingen 1998, S. 9-40 Davies, P., in: BrockmanJ.: Die dritte Kultur: Das Weltbild der modernen Naturwissenschaft, München 1995, S. 25-27
Felt, U, Nowotny, H., Taschwer, K. (Hrsg.): Wissenschaftsforschung. Eine Einführung, Frankfurt/M. und New York 1995
Gerhardt, V.: Selbstachtung (Zur Entschlüsselung des menschlichen Genoms), in: Merkur, Heft 7, Juli 2000, S. 641-645
Gierer, A.: Naturwissenschaft und Menschenbild, in: Oexle, O. G. (Hrsg.): Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit-Gegensatz-Komplementarität, Göttingen 1998, S. 41(60
Guston, D. H. und Keniston, K.: Introduction: The social contract for science, in: dies, (eds.), The fragile contract: University science and the federal government, Cambridge, MA 1994
Laudan, L.: Science and Relativism, Chicago 1990
Lepenies, W.: Die drei Kulturen: Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, Reinbek b. Hamburg 1988
Luhmann, N.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1990
Mayr, E.: Was ist eigentlich die Philosophie der Biologie?, in: BBAW (Hrsg.): Berichte und Abhandlungen, Bd. 5, Berlin 1998, S. 287-301
Mittelstraß, J.: Geist, Natur und die Liebe zum Dualismus – Wider den Mythos von zwei Kulturen, in: Bachmeier, H. und Fischer, E. P. (Hrsg.): Glanz und Elend der zwei Kulturen, Konstanz 1991, S. 9-28
Nowotny, H.: In wessen Namen spricht die Wissenschaft?, Der Standard, 27.11.1999
Pinkau, K.: Leserbrief an GEGENWORTE zum Artikel von Peter Weingart: »Ist das Wissenschafts-Ethos noch zu retten?«, GEGENWORTE, Heft 2, Herbst 1998
Röcke, W.: Vom »Streit der Fakultäten« zur Einheits-Wissenschaft! Was meint das Gebot der »Exzellenz« in den Geisteswissenschaften, Vortrag, gehalten auf einer gemeinsamen Tagung der Cornell University (Ithaca, NY) und der Humboldt-Universität zu Berlin, 8. bis 10. Oktober 2000
Shapin, S.: Von der Schwierigkeit, ein Wissenschaftsgegner zu sein: Vertrauen in die Wissenschaft basiert nicht auf der Akzeptanz einer metawissenschaftlichen Erzählung, Frankfurter Rundschau, 27.10.1998
Simon, T).: Die Aufklärung des Volkes durch und über Wissenschaft, in: Transit, 19, Sommer 2000, S.187-198
Singer, W.: Auf dem Weg nach innen. Ein kognitives System versucht sich selbst zu ergründen: Fünfzig Jahre Hirnforschung in der Max-Planck-Gesellschaft, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.2.1998, S. 41
Snow, C. P: The two cultures and the scientißc revolution. The Rede lecture 1959, Cambridge 1961
von Bohlen und Halbach, F., Chief Executive Officer der Lion Bio-science AG in Heidelberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 6.2000
Vowinckel, G.: Verwandtschaft und was die Kultur daraus macht, in: Schiefenhövel, W., Vogel, Chr. et al. (Hrsg.): Zwischen Natur und Kultur. Der Mensch in seinen Beziehungen, Stuttgart 1994, S. 32-42
Weinberg, S.: Dreams of a final theory, London 1993
Weingart, P: Interdisziplinarität – der paradoxe Diskurs, Ethik und Sozialwissenschaften, 8,4,1997, S. 521-529
Zacher, H. F.: Der schrumpfende Freiraum der Forschung. Vorbemerkungen zum Kolloquium, in: Der schrumpfende Freiraum der Forschung, Symposium der Max-Planck-Gesellschaft, Schloss Ringberg/Tegernsee, Mai 1994, S. 7-25
Zimmerli, W. Ch.: Forschung und Forschungsfolgen – Soziotechnische Experimente als neues Paradigma, in: Der schrumpfende Freiraum der Forschung, Symposium der Max-Planck-Gesellschaft, Schloss Ringberg/Tegernsee, Mai 1994, S. 73-90