Bestandsaufnahme: Dialog in Deutschland

von Heinz-Hermann Peitz

Heinz-Hermann Peitz
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Prof. Dr. Dirk Evers “Die Vorherrschaft einer angeblich wissenschaftlichen Weltsicht, die Religion als Außenseiterposition konstruiert, bringt neue Herausforderungen für den Wissenschafts-Religions-Dialog mit sich”

Im Juniheft der angesehenen interdisziplinären Fachzeitschrift “Zygon: Journal of Religion and Science” hat Dirk Evers wichtige Stationen der Interaktion zwischen Naturwissenschaft und Religion in Deutschland während der letzten 50 Jahre und die spezifische säkulare Herausforderung nach der Wiedervereinigung skizziert. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages ist hier eine zusammenfassende Übersetzung wiedergegeben, die mit einer abschließenden Würdigung durch den Rezensenten abschließt.

Dirk Evers: Religion and Science in Germany, in: Zygon: Journal of Religion and Science 50, 2015, Heft 2, 503-533

Gliederung

Zusammenfassung

Während der letzten 50 Jahre hat der Dialog zwischen Naturwissenschaft und Religion in Deutschland Schwung bekommen. Evers beschreibt in Kürze den akademischen Rahmen in Deutschland mit konfessioneller Theologie an staatlichen Universitäten und erklärt die Entwicklung der Säkularisierung im wiedervereinigten Deutschland. 25 Jahre nach der Wiedervereinigung ist Ostdeutschland eine der säkularsten Gesellschaften der Welt, und Religion wird als merkwürdiges Relikt angesehen. Dies wirft Herausforderungen für die Interaktion zwischen Naturwissenschaft und Religion in beiden Teilen Deutschlands auf.
Evers führt dann wichtige Institutionen und Akteure der Interaktion zwischen Naturwissenschaft und Religion in Deutschland während der letzten 50 Jahre auf, indem die Wichtigkeit privater Institutionen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft, Kirchen und ethischen Herausforderungen betont wird.

Säkularisierung in Deutschland

Heute, 25 Jahre nach der Wiedervereinigung, ist ein Drittel der Deutschen ohne religiöse Bindung, im Vergleich heißt dies: 68,5% der Ostdeutschen und 17% der Westdeutschen (Bertelsmann Religionsmonitor 2013). Nahezu 80% der Ostdeutschen verstehen sich nicht als spirituell und ohne Bezug zu religiösem Glauben.

konfessionslose_595Mit dem Religions- und Kirchensoziologen Gert Pickel (2011) beschreibt Evers die deutsche Situation zweifach. Zum einen gebe es in Westdeutschland eine starke, aber nicht außerordentliche Säkularisierung (Rückgang der Kirchenmitglieder, der religiösen Traditionen und Kenntnisse) Hand in Hand mit religiöser Individualisierung und Pluralisierung; ein Pluralismus an religiösen, spirituellen und säkularen Optionen (Pickel, Taylor). Zum zweiten habe sich in Ostdeutschland eine inzwischen tief verwurzelte Kultur der Konfessionslosigkeit etabliert, die zum Normalfall geworden ist. Im Unterschied zu vielen westlichen Formen des Atheismus sei diese habituelle, selbstverständliche Religionslosigkeit weder aggressiv noch missionarisch. Religionen (vor allem dem Islam) begegne man mit Verwunderung und gewissem Misstrauen. Die Beweislast fällt damit den religiösen Interpretationen zu, während eine populäre Wissenschaft und eine bestimmte Vorstellung von Rationalität die religiöse Lebens- und Realitätssicht ersetzt haben.
Diese Vorherrschaft einer angeblich wissenschaftlichen Weltsicht, die Religion als Außenseiterposition konstruiert, bringt laut Evers neue Herausforderungen für den Wissenschafts-Religions-Dialog mit sich. Es stehe zu befürchten, dass die deutsche liberale Theologie mit ihrem starken Fokus auf Religion (Singular!) als allgemeines anthropologisches Merkmal menschlicher Subjektivität mangels Berührung mit empirischer Naturwissenschaft und mit naturwissenschaftlich informierten Weltbildern für diese Aufgabe nicht gut gerüstet ist.

Der Dialog zwischen Naturwissenschaft und Religion in Deutschland während der letzten 50 Jahre

Die Rolle der Akademien

Nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet spielen nach Evers die kirchlichen Akademien in Deutschland eine bedeutende Rolle im Dialog zwischen Naturwissenschaft und Religion. Von den heute 20 evangelischen und 21 katholischen Akademien haben einige ein spezielles Interesse für diesen Dialog entwickelt. In der protestantischen Akademie Arnoldshain führt beispielsweise Hubert Meisinger, Mitglied der European Society for the Study of Science and Theology(ESSSAT, s. u.), derartige Programme durch. Die alle zwei Jahre durchgeführten ESSSAT-Tagungen in der Evangelischen Akademie im Rheinland sind nur ein Teil des interdisziplinären Schwerpunkts, den dort Frank Vogelsang bedient. Zusammen mit Andreas Losch (jetzt Universität Bern) betreibt Vogelsang eine Website zum Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft (www.theologie-naturwissenschaften.de). Die Evangelische Akademie Baden hat sich mit einer von dem Physiker Jürgen Audretsch herausgegebenen, interdisziplinären Publikationsreihe einen Namen gemacht. Auf katholischer Seite bietet die Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart durch Heinz-Hermann Peitz einen Religion-Naturwissenschafts-Schwerpunkt an, bei dem auch das Religion and Science Network Germany (RSNG) einen Platz findet. Peitz betreibt seit 2001 eine der führenden Websites zum Dialog zwischen Naturwissenschaft und Religion, das forum-grenzfragen (www.forum-grenzfragen.de).

FEST

1957/58 entstand die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V. (FEST) in Heidelberg. Das ständige Wachstum der FEST brachte Theologen, Natur-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler ins Team. In dem Biologen und Theologen Jürgen Hübner erblickt Evers eine führende Persönlichkeit im naturwissenschaftlich religiösen Dialog an der FEST. Seine 1987 fertig gestellte umfassende Bibliografie habe mehr oder weniger vollständig das interdisziplinäre Engagement in Deutschland seit 1945 abgebildet und darüber hinaus viele ausländische Publikationen verzeichnet. Die Bibliografie bezeugt für Evers das wachsende interdisziplinäre Interesse der späten 1980er Jahre, in denen der deutsche Dialog in Kontakt mit englischsprachigen Diskursen über Naturwissenschaft und Religion trat.

Andere Institutionen

Von katholischer Seite erwähnt Evers die Jesuiten-Hochschule für Philosophie in München, die ein Institut für naturwissenschaftliche Grenzfragen zur Philosophie und Theologie (ING) betreibt und dessen Mitarbeiter Christian Kummer, Philosoph, Biologe und Theologe, ausführlich zur Beziehung von Evolution und Schöpfungslehre publiziert hat. Evers schätzt Kummer als prominenten, ausgewogenen Kenner der Szene in Deutschland und als Kritiker des Kreationismus. Er verortet Kummers Konzepte im Kontext von Theorien der Selbstorganisation und dem Aristotelischen Werdebegriff. Wenn Evers an dieser Stelle noch erwähnt hätte, dass ebenso Gedankengut von Teilhard bei Kummer (kritisch) rezipiert wird (siehe Kummers „Der Fall Darwin“), hätte sich als Abfallprodukt ein zwangloser Übergang zum nächsten Abschnitt ergeben.

Die Rezeption von Teilhard de Chardin

Im Werk des französischen Theologen und Anthropologen Teilhard de Chardin erblickt Evers einen ersten Schritt in Richtung einer theologischen Reflexion der Evolution auf katholischer Seite. Jahren der Verbannung geschuldet gewann Teilhards Werk erst posthum in den 1960er Jahren Einfluss auf die deutsche katholische Theologie. Sein Werk wurde in Deutschland vor allem von dem Philosophen und Theologen Karl Schmitz-Moormann verbreitet, dessen Einfluss auf den deutschen Katholizismus Evers jedoch als geringer einschätzt als seine Verbindung zu angelsächsischen Kollegen, in der eine Konvergenz zwischen Teilhard und dem Prozessdenken zur Sprache kommen konnte.
Die Verteidigung Teilhards durch jesuitische Theologen in der Folge des Zweiten Vaticanums führte zu einer offeneren und konstruktiven Diskussion über Naturwissenschaft und Evolutionstheorie im Speziellen. Für Evers war der wichtigste katholische Theologe in dieser Hinsicht Karl Rahner, der sich auf Teilhard zwar nur sporadisch bezieht, aber durchaus als von ihm beeinflusst gelten kann. Rahners interdisziplinäres Engagement beginnt in den 1950er Jahren (zusammen mit dem jesuitischen Anthropologen Paul Overhage) mit der Frage der Hominisation, dem evolutionären Ursprung der Menschheit. Rahner diskutierte dabei grundsätzliche Vorstellungen von Werden, Ursache, Determination, Geist und Materie etc. und entwickelte dazu den Begriff der aktiven Selbsttranszendenz.
Evers muss feststellen, dass die protestantische Theologie Teilhards Ideen ignorierte – mit Ausnahme von Sigurd Martin Daecke, der als systematischer Theologe an der TH Aachen zu einem der Motoren des Naturwissenschaft-Religions-Dialogs in Deutschland seit den 1970er Jahren wurde.

Die Gründung von ESSSAT

Aus der seit 1986 durchgeführten European Conference on Science and Theology (ECST) ging 1990 unter Beteiligung von Svend Andersen, Viggo Mortensen (Dänemark), Bernard Morel (Frankreich), Michael W. S. Parsons, Arthur Peacocke (Großbritannien), dem erwähnten Karl Schmitz-Moormann und Christoph Wassermann (Deutschland) die European Society for the Study of Science and Theology (ESSSAT) hervor. ESSSAT und ECST existieren bis heute, und seit 2005 findet zwischen den zweijährlichen Europakonferenzen eine lokale deutsche ESSSAT-Konferenz in der Evangelischen Akademie des Rheinlandes statt (s. o.).

Karl-Heim-Gesellschaft

Die 1974 gegründete und heute ca. 700 Mitglieder umfassende Karl-Heim-Gesellschaft ist dem Werk des deutschen Theologen Karl Heim, einem der Pioniere des Naturwissenschaft-Religion-Dialogs, gewidmet. Die Gesellschaft organisiert Jahreskonferenzen und publiziert Newsletter und das von Ulrich Beuttler und Martin Rothgangel veröffentlichte wissenschaftliche Jahrbuch Glauben und Denken.

Evangelikale Institutionen und die deutsche Debatte um Kreationismus

Als sich nach evangelikalem Start die Karl-Heim-Gesellschaft liberalisierte, gründete Horst W. Beck 1981 die kreationistische und evangelikale Studiengemeinschaft Wort und Wissen. Das 1986 erstmals veröffentlichte und 2005 mit einem Schulbuchpreis dekorierte kritische Lehrbuch zur Evolution erregte öffentliche Aufmerksamkeit – und massive Kritik. Das vom Biologen Reinhard Junker und vom Mikrobiologen Siegfried Scherer herausgegebene Buch argumentiert entlang einer Art Intelligent Design Linie. Die deutsche Kreationistenbewegung schätzt Evers dabei im Vergleich zu vielen nordamerikanischen Entsprechungen als weit weniger aggressiv, weniger politisch und bezüglich der epistemologischen Fallstricke erheblich bewusster ein.
Abgesehen von einigen Regionen in Deutschland finden Kreationismus und Intelligent Design kaum Rückhalt. Es gibt auch keinen öffentlichen Druck, so etwas wie „Schöpfungswissenschaft“ im Biologieunterricht zu thematisieren, da dies im regulären Religionsunterricht bereits geschieht. In der Breite wird indes die Ansicht geteilt, dass eine reduktionistische und ideologische Interpretation [herv. hhp] der Evolutionstheorie gefährlich ist und abgewiesen werden muss.
Die Proteste von Humanisten und Biologielehrern gegen Junker/Scherers „kritisches Lehrbuch“ fielen zusammen mit Kardinal Schönborns Gastkommentar in der New York Times mit dem Titel „Finding Design in Nature“. Evers zufolge wurde spekuliert, dass dies zu einer Initiative gehörte, naturalistische Interpretationen der Evolutionstheorie zu hinterfragen und öffentlich die alternative Sicht eines behutsamen Intelligent Design zu forcieren. Überraschend sei es auch, dass Papst Benedikt auf einer Folgetagung zum Thema das kritische Lehrbuch erwähnt habe.
Evers bilanziert: All dies führte zu einer öffentlichen Debatte über Evolution, Intelligent Design und religiöse Weltbilder in Deutschland, hatte zwischen 2005 und 2009 einen Höhepunkt, zerfiel aber wieder während des Darwinjahres 2009 und kann momentan als tot bezeichnet werden.
Es sei auch bezeichnend, dass sich die letzte Auflage des kritischen Lehrbuchs mehr oder weniger von einem Kurzzeitkreationismus und – aus epistemologischen Gründen – von einer Intelligent Design ähnlichen Argumentation verabschiedet hat: „Der Schluss von naturwissenschaftlich darstellbaren Erklärungsdefiziten auf transzendente Ursachen bei der Entstehung biomolekularer Maschinen ist deshalb nicht ratsam“ (Junker/Scherer 2013, 175). [Siehe auch die Besprechung auf dieser Website] Insgesamt bezeuge das kritische Lehrbuch, dass – zumindest im deutschen Kontext – die Kritik von Kreationismus und ID zu einem Rückzug der Kreationisten und zu einem klareren Blick auf das geführt hat, was tatsächlich auf dem Spiel steht: Epistemologie, der Schluss von Fakten auf Werte, die Erfahrung des Bösen als Anfrage an einen Designergott u. a.

Naturalistische Debatten

Eine interessante Dabatte über das Verhältnis von Atheismus, Religion und Wissenschaft findet sich im aktuellen Heft der Zeitschrift Erwägen Wissen Ethik (EWE). Im Leitartikel konstatiert Günter Kehrer, als bekennender Atheist im Beirat der Giordano Bruno Stiftung, einen mehr oder weniger totalen Sieg der Wissenschaft über die Religion, so dass es keine weiteren Konflikte zwischen Naturwissenschaft und Religion mehr gibt. Denn „die Forschungspraxis der (Natur)Wissenschaften ist atheistisch: Gott kommt nicht vor“. Auf der anderen Seite haben sich aus Kehrers Sicht die christlichen Kirchen und Theologie von der Formulierung gehaltvoller (im Sinne testbarer) Aussagen über Gott und Natur zurückgezogen. In einer solchen Situation einer gegenseitigen Nichtangriffsklausel ist Wissenschaft zu Kehrers Bedauern beschränkt auf den Kampf gegen Kreationismus und Fundamentalismus. Kehrers Beitrag führte zu 69 Antwortbeiträgen renommierter Autoren verschiedenster Provenienz. Diese Diskussion gibt laut Evers einen umfassenden Überblick über das breite Spektrum der Positionen zum Verhältnis Wissenschaft – Religion in Deutschland.

Führende Stimmen in der Theologie

Wolfhard Pannenberg

Wie Evers berichtet, war die Theologie im Deutschland der 1960er Jahre noch immer dominiert von der Barthschen Theologie auf den einen und der hermeneutisch-existenzialistischen Theologie (Bultmann) auf der anderen Seite. Für beide spielte der Dialog zwischen Naturwissenschaft und Religion keine Rolle, da dieser als vergeblicher Versuch angesehen wurde, Glauben mit den Mitteln natürlicher Theologie zu rechtfertigen. Eine jüngere Generation von Naturwissenschaftlern und Theologen, darunter der systematische Theologe Wolfhart Pannenberg und der Physiker A. M. Klaus Müller, wollten eine Alternative zu den dominierenden Schulen bieten und engagierten sich z. B. mit dem programmatischen Titel „Erwägungen zu einer Theologie der Natur“ in neuen Formen des interdisziplinären Diskurses. Müllers Buch „Die präparierte Zeit“ wurde zu einem Klassiker im deutschen Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie. Wenn Wissenschaft teilweise für die gegenwärtige Krise der Menschheit verantwortlich gemacht wird, zeigt sich die Dominanz ethischer Fragen, die den Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg von Beginn an charakterisiert.
Allerdings sei Pannenbergs Vorstellung von Geschichte als objektive Offenbarung und seine Sicht von Theologie als objektive wissenschaftliche Disziplin in enger Analogie zu empirischer Wissenschaft von fast allen Deutschen Theologen zurückgewiesen worden. Seine direkte Bezugnahme auf naturwissenschaftliche Konzepte wie Feld, Energie, Naturgesetze usw. als grundlegende Konzepte sowohl für Naturwissenschaft als auch für Theologie, seine unvermittelte theologische Interpretation von Kosmologie und Evolution, sein kognitiver Zugang zu Religion, Theologie und Glauben – all dies habe sein Werk im deutschen Kontext einer wissenschaftlichen Theologie isoliert, als sich mit den 1990er Jahren ein massiver Aufstieg und schließlich die Dominanz der neoliberalen Theologie vollzog.

Jürgen Moltmann

Moltmann habe auf ein Verständnis von Schöpfung in engem Dialog und unter Einbeziehung der Naturwissenschaft gezielt, aber ohne die theologische Weisheit der Enge naturwissenschaftlichen Wissens zu opfern. Dabei verorte Moltmann den Schöpfer in der Schöpfung, ohne beide zu identifizieren. In seiner Lehre der Dreifaltigkeit stehe der Geist für die Präsenz des Göttlichen in allen Dingen. Die Differenz von Schöpfung und Schöpfer ist bestimmt von der göttlichen Selbstbeschränkung: Der Schöpfer nimmt sich zurück und schafft so Raum für relativ autonome Geschöpfe.
Evers etikettiert Moltmann als einen Vertreter des Modells der Integration von Naturwissenschaft, Religion und Theologie – mithilfe der zentralen Kategorie der Weisheit.

Andere

Der Bochumer systematische Theologe Christian Link habe zwar mit Barth darin übereingestimmt, dass eine natürliche Theologie in klassischem Sinne nicht möglich ist, habe aber für die Entwicklung einer Theologie der Natur plädiert. Dabei sei (im Rückgriff auf A. M. Klaus Müller) die Zeit der gemeinsame Horizont für Theologie und Naturwissenschaft. Inspiriert von der Auferstehung Christi halte christliche Theologie eine komplementäre, aber nicht notwendig rivalisierende Perspektive auf die Fülle der Zeit vor.
Der Wiener systematische Theologe Ulrich Körtner bezieht sich auf die Naturwissenschaft von einer hermeneutischen Perspektive aus. Er unterscheide strikt zwischen Glauben und Theologie. Die Probleme zwischen Naturwissenschaft und Religion spielen sich in seiner Sicht zwischen Theologie als rationaler Explikation religiöser Überzeugungen und Weltbildern, die auf naturwissenschaftlichen Konzepten und Theorien basieren. Der Dialog könne dabei durch keine Art natürlicher Philosophie, sondern durch hermeneutische Reflexion vermittelt werden.

Die neoliberale Hauptströmung

Weder die Theologie Pannenbergs noch die Theologie Moltmanns hatten laut Evers einen bleibenden Einfluss auf die deutsche wissenschaftliche Theologie. Vielmehr erlebten die 1980er Jahre einen Aufschwung (neo)liberaler Theologie, was exemplarisch an der Gründung von Gesellschaften deutlich wird, die das Erbe zweier Helden liberaler Theologie hoch halten: Die Ernst-Troeltsch-Gesellschaft (gegründet 1981) und die Internationale Schleiermacher-Gesellschaft (gegründet 1996), ein Gegenstück der deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft (bereits 1969 gegründet). Die Mehrheit der deutschen evangelischen Theologen und bedeutende Individuen innerhalb der katholischen Theologie sind in diesen Gesellschaften organisiert.
Der Kongressband mit dem programmatischen Titel „Aufgeklärte Religion und ihre Probleme“ demonstriere die Vision der drei Gesellschaften von der Aufgabe der Theologie: Überführung der Theologie in die Moderne in der Tradition der deutschen Aufklärung, und dies in Bezug auf historisch kritische Methode, die verschwindende Bedeutung institutionalisierter Religion, einen radikalen Pluralismus und religiösen Individualismus. Dies habe zu einer Konzentration auf die Bedingungen kulturell vermittelten religiösen Selbstverständnisses und damit zu einer Vernachlässigung der Fragen von Schöpfung und Natur geführt. Schöpfung hat in dieser Sichtweise nicht mit Kosmogonie oder Eigenschaften der Natur zu tun, sondern in der Folge von Schleiermacher mit dem universellen Gefühl absoluter Abhängigkeit, mit Endlichkeitsreflexion.

Michael Welker

Eine Ausnahme innerhalb der deutschen protestantischen Theologie erblickt Evers in Michael Welker, der eine „realistische Theologie“ verfolge. Er möchte die wissenschaftliche Theologie in Beziehung mit konkreten Bereichen menschlicher Erfahrung setzen. In seinem Verständnis darf religiöser Glaube nicht missverstanden werden als subjektive Gewissheit. So beschreibt Welker den heiligen Geist als konkretes lebensstiftendes Kraftfeld, besser als Feld der Felder. Für Welker liege der spezifische Beitrag der Theologie im Dialog vor allem in einer multiperspektivischen Erkundung von Wissensbereichen, die beiden gemeinsam sind, und das Bauen von kleinen Brücken.

Aktuelle Entwicklungen und Akteure

Evers hält fest, dass seit 2000 der deutsche Naturwissenschaft-Theologie-Dialog aus dem englischsprachigen Raum inspiriert wird. Indikator dafür sei die Publikationsreihe Religion, Theologie und Naturwissenschaft (RThN) von Vandenhoeck & Ruprecht, die 2003 mit einer Übersetzung von Ian Barbours „Religion and Science“ startete.
2006 hat der Tübinger katholische Theologe Hans Küng ein populäres Buch verfasst, das ein Modell der Komplementarität zwischen Naturwissenschaft und Religion vertritt und ungerechtfertigte Übergänge zwischen den Bereichen zu eliminieren sucht. Obwohl es zeitweise ein Bestseller war, habe es kaum Einfluss auf den akademischen Bereich genommen.
Evers erwännt noch: Hans Schwarz, 400 Jahre Streit um die Wahrheit – Theologie und Naturwissenschaft; Patrick Becker, Ursula Diewald, Georg Gasser (Hg.), Zukunftsperspektiven im theologisch-naturwissenschaftlichen Dialog; Andreas Losch, Jenseits der Konflikte; Hans-Dieter Mutschler, der in „Halbierte Wirklichkeit“ eine narrative Theologie der Natur mit starkem Bezug zu den Naturwissenschaften skizziert.

Fazit

Evers vermutet, dass die Interaktion zwischen Naturwissenschaft, religiösen Sichtweisen, das, was unbedingt angeht, unbedingte Werte und theologische Reflexion in Deutschland lediglich eine Seitenline des wissenschaftlichen Diskurses bleibt. Da dieser Diskurs sich im Allgemeinen ad-hoc-Themen widme und Dissertationen oder isolierten, sporadischen Essays vorbehalten bleibe, habe sich kein fortlaufender Diskussionsstrang entwickelt, was auch wahrscheinlich in naher Zukunft nicht passieren werde. Die deutsche wissenschaftliche Theologie beziehe sich vorwiegend auf Kulturwissenschaften und sei weniger interessiert – auch kaum kompetent –, einen Bezug auf die verschiedenen Felder der Naturwissenschaft aufzubauen. Dabei hänge gerade im säkularisierten Kontext Deutschlands die theologische und interreligiöse Kompetenz zunehmend von der Kompetenz ab, sich auf Entwicklungen zu beziehen, die eng mit naturwissenschaftlicher Forschung und technologischen Prozessen verknüpft sind. Die Grenzen zwischen Naturwissenschaften, Kulturwissenschaften und Geisteswissenschaften verschwimmen bereits im Hinblick auf neue inter- und transdisziplinäre Forschungsfelder wie Kognitionswissenschaft, Theorien des Bewusstseins und andere. Im weiten Sinn eines besseren Verständnisses des Zusammenspiels von Naturwissenschaft und menschlichen Werten im aktuellen, säkularen Deutschland könnte sich der Naturwissenschafts-Religions-Dialog – so Evers abschließend – als äußerst wichtig erweisen.

Abschließende Würdigung durch den Rezensenten

Der Artikel von Dirk Evers ist deshalb so ausführlich zusammengefasst, weil er zum einen eine prägnante Analyse des aktuellen und typisch deutschen Kulturhintergrundes mit seinen westlich und östlich unterschiedlichen Säkularisierungsherausforderungen bietet. Zum zweiten vermittelt er einen Überblick über die Meilensteine und die Entwicklung des deutschen Naturwissenschafts-Religions-Dialogs in den letzten 50 Jahren.
Die Darstellung ist dabei durchaus für Überraschungen gut. Wer – wie ich als katholischer Theologe – die Szene der evangelischen Theologie nicht so detailliert kennt, mag verwundert sein, wenn die Theologie Wolfhart Pannenbers Evers zufolge keinen „bleibenden Einfluss auf die deutsche wissenschaftliche Theologie“ genommen hat. Das scheint im Widerspruch zu stehen 1. zur Wikipedia-Aussage „Seine Theologie übte international großen Einfluss aus. Er gehörte zu den bekanntesten evangelischen Theologen der Gegenwart.“ („Wolfhart Pannenberg“, in: Wikipedia, Bearbeitungsstand 18. Mai 2015, 03:54 UTC) als auch 2. zur Würdigung Reinhard Bingeners: „Nur wenige protestantische Theologen haben zu Lebzeiten eine so breite Rezeption von römisch-katholischer Seite erfahren wie Wolfhart Pannenberg“ (FAZ vom 6. September 2014, S. 6). Möglicherweise löst sich der Widerspruch auf, wenn man 1. nicht auf Pannenbergs internationalen Einfluss blickt, den er z. B. über Philip Clayton im angelsächsischen Bereich zweifellos hat, und wenn man 2. die katholische Rezeption ausblendet.
Denn – dies mag kritisch angemerkt werden – Evers konzentriert sich vornehmlich auf die evangelische Theologie. Diese Einschränkung hätte in Titelwahl und durchgängig im Text erwähnt werden sollen. Zwar sind mit den katholischen Theologen Teilhard de Chardin und Karl Rahner wichtige historische Weichensteller des Dialogs benannt, in der zeitgenössischen katholischen Diskussion hätten neben Christian Kummer mindestens aber Ulrich Lüke und Hans Kessler erwähnt werden können, idealerweise auch die theologische Folgegeneration. Möglicherweise hätte sich dann die Analyse der Wertschätzung Pannenbergs ökumenisch optimieren lassen und die Prognose über die Zukunft des naturwissenschaftlich-theologischen Dialogs ebenfalls leicht verändert.
Dies mag als Anregung verstanden werden, für die Entwicklung des katholisch interdisziplinären Dialogs einen ähnlich anregenden Beitrag zu verfassen, wie Evers dies für den protestantischen Bereich getan hat. Ideal freilich wäre eine ökumenische Bilanz und Zukunftsperspektive des Dialogs zwischen Naturwissenschaft und Theologie.

Heinz-Hermann Peitz