“Nur eine Theorie” – Alltags- versus Wissenschaftssprache

von grenzfragen

Die New York Times fragte ihre Leser, welche Missverständnisse sie am meisten frustierten. Die mit Abstand häufigste Eingabe beklagte die falsch verstandene Aussage: “Ist doch nur eine Theorie“. Der Wissenschaftsjournalist Carl Zimmer nahm sich dieses Missverständnisses an und stellte im ersten Satz klar: “Theorien haben nichts mit Vermuten oder Rätselraten zu tun, sie sind die Kronjuwelen der Wissenschaft”.

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Missverständnis: Die Erde ist flach. Karte der flachen Erde von Prof. Orlando Ferguson aus dem Jahr 1893.
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Laut Zimmer tendierten wir in der Alltagssprache dazu, das Wort “Theorie” im Sinne von Vermutung, müßiger Spekulation oder verückter Vorstellung zu verwenden (“Eines Tages mag Megyn Kelly eine Theorie haben, warum Donald Trump sie hasst”). Das sei aber nicht die wissenschaftliche Bedeutung von “Theorie”.

Kenneth Raymond Miller ist besonders bekannt für seinen Einsatz gegen Kreationismus und Intelligent Design. Foto gemeinfrei

Kenneth Raymond Miller ist besonders bekannt für seinen Einsatz gegen Kreationismus und Intelligent Design.
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“In der Wissenschaft wird ‘Theorie’ nicht leichtfertig angewandt”, zitiert Zimmer den Zellbiologen Kenneth R. Miller. Miller zufolge ist “eine Theorie ein System von Erklärungen, das ein ganzes Bündel an Fakten zusammenbindet.” Die Theorie erkläre nicht nur diese Fakten, sondern mache auch Voraussagen über andere Beobachtungen und Experimente. Miller sei einer der wenigen Wissenschaftler, die das Wesen von Theorien im Zeugenstand unter Eid erklären mussten. Gemeint ist damit ein einschlägiger Prozess, der dem Versuch der Schulbehörde von Dover (Pennsylvania, USA), „Intelligent Design“ als Alternative zur Evolutionstheorie im Unterricht zu behandeln, eine klare gerichtliche Absage erteilt hatte (siehe unsere Dokumentation). Als Co-Autor eines Schulbuchs zur Evolution hatte Miller hinnehmen müssen, dass dem Buch ein Aufkleber verpasst wurde mit dem Hinweis: “Evolution ist bezüglich der Lebensentstehung eine Theorie, keine Tatsache”. Nach dem Gerichtsurteil wurden die Aufkleber entfernt.

Peter Godfrey-Smith, Autor des Buches “Theory and Reality: An Introduction to the Philosophy of Science”, habe sich Gedanken darüber gemacht, wie man das Missverständnis, das in der Aussagen “Ist nur eine Theorie” lauert, vermeiden könne. Es sei hilfreich – so Godfrey-Smith – über Theorien wie über Landkarten zu denken, als Versuch, ein bestimmtes Territorium zu repräsentieren. Ähnlich repräsentiere eine Theorie ein Territorium der Wissenschaft. Anstelle von Flüssen, Hügeln und Städten seien die Gegenstände einer Theorie eben Fakten. Um die Qualität einer Landkarte zu beurteilen, müssten wir sehen, wie gut sie uns durch ihr Territorium führe. In ähnlicher Weise testeten Wissenschaftler neue Theorien an vorliegenden Befunden. So viele Karten sich als unzuverlässig herausgestellt hätten, so viele Theorien seien auch verworfen worden.

Andere Theorien hingegen seien zur Grundlage der modernen Naturwissenschaft geworden, wie die Evolutionstheorie, die allgemeine Relativitätstheorie, die Theorie der Plattentektonik, die Theorie des Heliozentrismus oder die Keimtheorie der Verursachung von Krankheiten. “Nach besten Kräften haben wir sie getestet, und sie haben sich bewährt. Und darum halten wir an ihnen fest”, wird Miller abschließend zitiert.

Quelle: In Science, It’s Never ‘Just a Theory’, by Carl Zimmer, www.nytimes.com vom 8. April 2016

Link zum englischen Original


Siehe auch den Auszug aus einem Interview mit der damaligen Direktorin des National Center for Science Education (NCSE), Eugenie Scott, in dem ich die gleichen Fragen nach dem Status der Evolutionstheorie gestellt habe:

    Zum gesamten Interview